NDR Kultur - Korrespondenz mit Hörern

Vorbemerkung:
Seit dem Beginn der halben „Reform“ von NDR Kultur unter Gernot Romann und Wolfgang Knauer zum
1. Januar 2003 gab es eine unerwartet breite Protestbewegung: die Briefe der Kritiker konnten nicht mehr einzeln und konkret beantwortet werden. So behandelte Wolfgang Knauer die meisten Kritikpunkte aller Kritiker in einem einzigen Brief.
„Da wir ziemlich viel Post erhalten haben und leider nicht jede Zuschrift individuell erwidern können, erlauben wir uns eine gesammelte Antwort und hoffen, dass Sie damit einverstanden sind.“
(siehe Absatz 1 des Briefes)

Betr.: Höreranfrage

„Gesammelte Antwort“

„Zu den Hauptkritikpunkten, die uns entgegen gehalten wurden, erlauben Sie uns bitte einige kurze Anmerkungen“

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3./6. Februar 2003

Sehr geehrter Herr Clostermann,

vielen Dank für Ihren schriftlichen Kommentar zur Reform unseres Programms, den wir, ungeachtet seines negativen Inhalts, als Zeichen Ihres großen Interesses und Ihrer Bereitschaft zu konstruktiver Kritik betrachten. Wir sind im Augenblick dabei, alle Einwände, die uns erreicht haben, zu sichten und auszuwerten, um notwendige Korrekturen möglichst bald vornehmen zu können. Da wir ziemlich viel Post erhalten haben und leider nicht jede Zuschrift individuell erwidern können, erlauben wir uns eine gesammelte Antwort und hoffen, dass Sie damit einverstanden sind.

Dass eine Programmreform nicht auf Anhieb in allen Details perfekt gelingt, war uns auf Grund früherer Erfahrungen durchaus bewusst; deshalb sind wir für kritische Hinweise aller Art durchaus dankbar. Andererseits ist uns klar, dass Veränderungen, gleich welcher Art, immer auch Widerspruch hervorrufen und eine Phase der Gewöhnung nötig ist, bis Neuerungen akzeptiert sind. Wir würden uns deshalb freuen, wenn Sie uns die Chance einräumen, einerseits sinnvolle bzw. notwendige Korrekturen vorzunehmen, und andererseits bereit sind, ein Zeit lang abzuwarten, ob Ihnen das renovierte Angebot am Ende nicht doch zusagt.

Zu den Hauptkritikpunkten, die uns entgegen gehalten wurden, erlauben Sie uns bitte einige kurze Anmerkungen:

Musik: Bemängelt wird die Verwendung von einzelnen Sätzen statt kompletter Werke. Tatsächlich haben wir auch in der Vergangenheit morgens, mittags und nachmittags in der Regel kürzere Stücke bzw. Teile von größeren Werken gebracht. Gelegenheit, längere sowie mehrteilige Kompositionen zu hören, bestand und besteht tagsüber in der „Matinee“ und abends in der neuen Reihe „Musica“ und in den Konzert-Zeiten. Kritisiert wird ferner, es würden neuerdings fast nur noch „Hits“ gespielt. Richtig ist, dass tagsüber bevorzugt Stücke ins Programm kommen, die auf den Zuspruch der großen Publikumsmehrheit rechnen können. Unser Bestreben ist gleichwohl, für möglichst große Vielfalt und Abwechslung zu sorgen.

Wortbeiträge: Information über Kultur und Zeitgeschehen ist immer wieder vom Publikum gewünscht worden. Wir bemühen uns um einerseits interessante Beiträge und sind andererseits bestrebt, unnötige Längen zu vermeiden und die Regel zu beachten, wonach in der Kürze Würze liege.

Nennung des Programm-Namens: In der Anfangsphase des renovierten Programms haben wir den neuen Namen „NDR Kultur“ bewusst häufig genannt, damit er sich dem Publikum einprägen möge. In der Vergangenheit hat sich gezeigt, dass viele den richtigen Namen nicht parat hatten, wenn sie, zum Beispiel bei demoskopischen Erhebungen, danach gefragt wurden. Auch jetzt werden wir noch häufig als „N 3“, „NDR 3“ oder auch als „Radio Kultur“ bezeichnet. Nach der Eingewöhnungsphase werden wir die Namensnennung im laufenden Programm ganz sicher reduzieren.

„Glocken und Chor“: Die Sendung ist nicht abgeschafft, wie irrtümlich behauptet, sondern auf die Zeit von 19.20 bis 20.00 Uhr verlegt. Sie wird - zur Verdeutlichung - ab März unter dem Titel „Musica - Glocken und Chor“ in den Programmzeitschriften ausgedruckt.

Noch einmal sei betont, dass unser Ziel nicht etwa gewesen ist, Ihnen die Lust an unseren Sendungen zu vergällen, sondern - ganz im Gegenteil - dafür zu sorgen, dass es neuen Anreiz gibt, ein Programm mit kulturellem Inhalt einzuschalten. Dabei haben wir einerseits Wünsche berücksichtigt, die aus unserer Stammhörerschaft an uns herangetragen worden sind (z.B. nach mehr aktueller Information über Kulturereignisse und sonstiges Zeitgeschehen), und uns andererseits an den Erwartungen von Kulturinteressierten orientiert, die unser Programm bisher kaum eingeschaltet haben, weil es ihnen nicht vielfältig und abwechslungsreich genug war. Unser Ziel war und ist, den Hörerkreis auf einem höheren Stand als bisher zu stabilisieren, damit das Programm nicht eines Tages unter die Wahrnehmbarkeitsschwelle sinkt und dadurch seine Existenz gefährdet. Mit „Quotenjagd“, wie gelegentlich unterstellt, hat das nichts zu tun; es geht vielmehr darum, auf Dauer dafür zu sorgen, dass es auch in Zukunft klassische Musik, Literatur, Hörspiele, Kulturberichte, Buchbesprechungen, Theaterrezensionen usw. im Radio zu hören gibt.

Wir sind nicht so vermessen zu glauben, alles ideal gelöst zu haben, glauben aber, ein insgesamt doch attraktives und niveauvolles Kulturprogramm zu liefern, das vielen unterschiedlichen Interessen entgegenkommt und eine Menge Hörenswertes zu bieten hat. Anfangsfehler werden wir korrigieren, Mängel und Schwächen, die nicht nur Sie, sondern auch wir selbst erkennen, ausbessern. Das Ergebnis, so hoffen wir, wird auch Ihnen zusagen.

Mit freundlichen Grüßen

Wolfgang Knauer
NDR Kultur

Nachbetrachtung:
1. Der Schreibstil von Wolfgang Knauer ist durchgehend ausgewogen.
2. Man spürt, dass ihn die Kritik der Hörer, gemessen an den eigenen Ansprüchen, betroffen gemacht hat.
3. Er verbreitet nicht die Arroganz, welche alle Verantwortlichen von NDR Kultur seit dem Herbst 2003 - seit der Wellenleitung von Barbara Mirow - an den Tag legten.
4. Zwischen den Zeilen spürt man in seinem Rücken die strenge Aufsicht des Programmdirektors Hörfunk Gernot Romann (vgl. dessen Ankündigung der „Reform“ zum 1. Januar 2003 auf der Radio3-Homepage).
5. So verwundert es nicht, dass Wolfgang Knauer Ende April 2003 seinen Rücktritt erklärte, im September 2003 den NDR verließ und
6. am 18. April 2005 vor der Enquete-Kommission des Deutschen Bundestages „Kultur in Deutschland“ mit seinen eigenen Erfahrungen ein beeindruckendes Plädoyer gegen die Trivialisierung durch das formatierte Tagesbegleitprogramm hielt.

Lesen Sie drei kritische Briefe an NDR Kultur gleich nach dem Beginn der halben „Reform“:
„Ein Glück, dass ich heute am 2. Februar 2003 nicht Geburtstag habe!“
Divertimento „Geburtstag“ von Joseph Haydn: zu hören war nur der erste Satz, „der letzte Satz ist das eigentliche Geburtstagsständchen“ - Hörer C. aus Reinbek, 2. Februar 2003
Frühe Grundsatzkritik an der halben „Reform“ von NDR Kultur seit Jahresbeginn 2003 - „Vor einer Woche habe ich mich als langjähriger Stammhörer von Ihrem Sender verabschiedet“
Anlass des Briefes: Eine durchkomponierte Sinfonie von Carl Philipp Emanuel Bach „wird rücksichtslos nach dem ersten Satz ausgeblendet“ - Hörer C. aus Reinbek, 15. Januar 2003
Vorschlag zur Quotenerhöhung und Abwerbung von Klassik-Radio-Hörern
Ist die Änderung der Programmgestaltung vielleicht nicht radikal genug? Mein Vorschlag zur Quotenerhöhung (...): Senden Sie aus den „highlights“ nur noch die schönen Stellen, am besten mehrmals am Tag, damit sie sich dem Hörer einprägen. So erfüllen Sie den Bildungsauftrag... - Hörer T. aus Ahrensburg, 15. Januar 2003