NDR Kultur - Korrespondenz

Antwort von Hörfunkdirektor Romann
auf den Brief des Hörers Schrader aus Burgdorf vom 7. Aril 2005

Längere mehrsätzige klassische Werke schließen Hörer, die nur kurz, zum Beispiel während einer kurzen Autofahrt einschalten, aus

Norddeutscher Rundfunk | Programmdirektion Hörfunk | 20140 Hamburg

Herrn Schrader, Burgdorf

26.04.2005

Sehr geehrter Herr Schrader,

für Ihren Brief vom 7. April 2005 danke ich Ihnen.

Ihre persönlichen Lebensumstände, die sicherlich auf Ihre Nutzung des Mediums Radio Einfluss haben, kenne ich nicht. Aus zahlreichen Untersuchungen und Erhebungen, die wir im Vorfeld der Programmreform von NDR Kultur von renommierten Instituten haben durchführen lassen, wissen wir aber, dass die Mehrzahl unserer Hörerinnen und Hörer NDR Kultur am Tage durchweg bei beruflichen oder sonstigen Tätigkeiten einschaltet.

Diese Erkenntnis, die sich mit den Ergebnissen anderer ARD-Studien deckt, war neu, hatten wir doch jahrelang geglaubt, dass Kulturprogramme - anders als Pop-Programme - gezielt zum konzentrierten Zuhören eingeschaltet werden. Programmlich hat dies zu einem Umdenken bei fast allen Kulturradios der ARD geführt. Monothematische Sendungen zu einem komplexen musikalischen Thema schließen Hörer, die nur kurz, zum Beispiel während einer kurzen Autofahrt einschalten, aus. Das gilt auch für längere mehrsätzige klassische Werke, die aus diesem Grunde nur in Ausnahmefällen in das Tagesprogramm integriert werden können. Um Ihre Frage ganz konkret zu beantworten: Die Programm-Macher von NDR Kultur gehen nicht von unterschiedlichen Nutzern, sondern einem unterschiedlichen Nutzungsverhalten am Tag und am Abend aus. Hörer, die sich auf die Live-Übertragung des "Tannhäuser" aus Bayreuth mit Christian Thielemann freuen, lassen sich in der Regel gern durch einen Vorbericht und die Ouvertüre des "Tannhäuser" auf den Abend einstimmen. Und sie erwarten mit Recht, dass sie am folgenden Morgen auf NDR Kultur erfahren, wie die führenden deutschen Feuilletons die Premiere beurteilen und wie die Meinung unseres Kritikers in Bayreuth ist.

Ein weiteres Ergebnis der oben erwähnten Studien ist, dass unsere Hörerinnen und Hörer klassische Musik vor allem zur Entspannung und zur Unterhaltung hören. Ihr Eindruck, dabei würden Genres und Epochen der Musik ausgeschlossen, täuscht. Zur Musik des 20. Jahrhunderts hier ein Auszug aus unserem Tagesrepertoire; Regelmäßig im Programm von NDR Kultur sind zu hören Werke von Abel Carlevaro, Samuel Barber, Leonard Bernstein, Jorge Cardoso, Aram Chatschaturjan, Reinhold Gliere, Dmitrij Kabalewskij, Zoltán Kodály, Sergej Prokofjew, Maurice Ravel, Ottorino Respighi, Joaquin Rodrigo, Dmitrij Schostakowitsch, Georgij Swiridow und Ralph Vaughan Williams.

Als solidar finanziertes Programm sind wir den Gebührenzahlern, ihren Wünschen und Erwartungen an das Programm verpflichtet. Dabei muss es unser Anspruch sein, möglichst viele klassik- und kulturinteressierte Menschen zu erreichen, denn 100 Prozent der Gebührenzahler werden auf Dauer kein Programm finanzieren, das weniger als 1 Prozent der Hörer in seiner Zielgruppe erreicht. In den vergangenen zwei Jahren hat NDR Kultur viele Stammhörer zurück- und neue hinzugewinnen können. Unsere Bilanz kann sich sehen lassen. So hat sich zum Beispiel in Hamburg die Zahl unserer Hörer vervierfacht. Von massiven Protesten kann also keine Rede sein: Im Gegenteil.

Ich würde mich freuen, wenn Sie trotz Ihrer grundsätzlichen Vorbehalte NDR Kultur weiter einschalteten - wenn nicht als Nutzer des Tages-, so doch des Abendprogramms.

Mit freundlichen Grüßen

gez. Gernot Romann

Lesen Sie die kritische Auseinandersetzung mit Romanns Antwort:
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Von Theodor Clostermann

Lesen Sie die Antwort von Herrn Romann auf den Brief des Hörers Schrader:
Längere mehrsätzige klassische Werke schließen Hörer, die nur kurz, zum Beispiel während einer kurzen Autofahrt einschalten, aus

Lesen Sie den Brief des Hörers Schrader aus Burgdorf vom 7. April 2005:
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