Das GANZE Werk - Hörerkritik an NDR Kultur

Dokumentation: Alle Titel von „Am Morgen vorgelesen“ seit Januar 2004 (Pdf)
Homepage NDR Kultur: Archiv von „Am Morgen vorgelesen“ (02/2003 - 05/2006

„Am Morgen vorgelesen“ mit verflachter Literatur-Auswahl

Vorbemerkung:

Es gibt immer offensichtlicher Veränderungen bei der ursprünglichen Lieblingssendung von NDR 3 / Radio 3 / NDR Kultur, „Am Morgen vorgelesen“. In den letzten Tagen erreichten uns dazu mehrere E-Mails einer Hörerin, die nördlich von Hamburg wohnt. Hier einige bemerkenswerte Ausschnitte:

18. Juli 2006
Angstschweiß, Martin Walser liest höchstpersönlich aus seinem Alterswerk „Angstblüte“! Es ist noch nicht erschienen. Von seinem Protagonisten, einem Anlageberater, hat NDR Kultur gelernt: Fürsorglich werde ich im Anschluß an jede Lesung auf das Erscheinungsdatum des Romans („auch als Hörbuch!“) hingewiesen. Vor der „Wut über den verlorenen Groschen“ bin ich so gefeit. (Wahrscheinlich investiere ich am kommenden Samstag in Pfirsiche...)

19. Juli 2006
Leider scheint sich meine Befürchtung zu bewahrheiten. Mit dem Weggang von Hanjo Kesting verliert AM MORGEN VORGELESEN auch das Niveau.

25. Juli 2006, unter dem Stichwort „Kultur(w)erbe“
Mit Steinunn Sigurdadóttir verflacht AM MORGEN VORGELESEN erbarmungslos weiter. Warum diese Auswahl von Texten?

Die Hörerin hat anschließend ihre Erfahrungen und ihre Kritik in dem folgenden Artikel zusammengefasst.

„Neu“ wird mit „anspruchslos-unterhaltsam“,
höchstens mit Anspruch auf „Seichtes“, verwechselt

Wolfgang Knauer, Hanjo Kesting - Namen von Männern des NDR, die für Qualität standen. Den Abstieg in das dem Massengeschmack angeglichene Tagesmusikprogramm konnte Knauer nicht verhindern. Er schreibt 2003 resignierend und hoffnunsvoll gleichermaßen:

„...Zu hoffen bleibt, daß im Versuch, neue Hörer zu gewinnen und damit die Existenz des Programms zu sichern, jetzt nicht übertrieben und des vermeintlich Guten zu viel getan wird. Ich selbst vertraue darauf, daß sich Qualität am Ende immer behaupten wird...“

Noch hat sich ein Streben nach Qualität nicht durchgesetzt, im Gegenteil: Die Verflachung ist mit dem Weggang von Hanjo Kesting auch in die beliebte Reihe AM MORGEN VORGELESEN eingezogen. Knauer und Kesting haben langmöglichst versucht, die Qualität des Programms hochzuhalten.

Doch schlichen sich schon zu ihrer Zeit Kleinmeister der Musik und Literatur in die Hörerohren. Inzwischen kennt man die Liebesbeziehung des jungen „Chéri“ zu einer Jahrzehnte älteren Frau ebenso wie das beklagenswerte Schicksal der Wahlkampfhelferin Edward Kennedys in Romanform. Auch die sehr junge Tochter des irischen Ministerpräsidenten durfte mit ihrem Bestseller eine junge Witwe den Tod ihres Ehemannes verarbeiten lassen, genauso wie einer isländischen Autorin tiefsinnige Gedanken über die „Liebe der Fische“ vorgelesen wurden.

Eine Präferenz für Werke des 20. (und 21.) Jahrhunderts wird zunehmend deutlich, Autoren früherer Jahrhunderte scheinen eher eine Alibifunktion zum Beweis des erfüllten Kultur- und Bildungsauftrags zu haben. Nun ist gegen neue Literatur nichts einzuwenden. Aber hier wird „neu“ mit „anspruchslos-unterhaltsam“, höchstens mit Anspruch auf „Seichtes“, verwechselt. Doch hat nicht auch das 20. Jahrhundert Werke von Weltgeltung hervorgebracht? Werke, die sendenswert sind und ein Ausweichen auf die literarische Bestsellerliste mit Büchern von günstigstenfalls leichtem Unterhaltungswert nicht rechtfertigen? Wie hörenswert wären doch der Ire James Joyce statt Cecelia Ahern, Halldór Laxness anstelle von Steinunn Sigurdardóttir gewesen. Der Isländer Laxness hätte sogar ein Werk mit dem Titel „Fischkonzert“ bieten können...

Von dem (kaum altersgemäßen) Alterswerk Martin Walsers, jüngst von ihm selbst vorgelesen, soll hier keine Rede sein. Ohrenzeuge der Selbstdemontage eines Schriftstellers gewesen zu sein, der einst zu den Großen gehörte, verschließt den Mund. Daß NDR Kultur Walsers „Angstblüte“ gesendet hat, läßt Angstschweiß ausbrechen ob der Frage nach der Zukunft der Sendereihe.

Die Entwicklung der Hörerzahlen von AM MORGEN VORGELESEN seit Beginn der Programmreform wäre sicherlich hochinteressant, genauso wie eine Auskunft über den Grund für den Niveauverlust. Der „junge Kulturinteressierte“, kann es nicht sein, hat er per (NDR-) definitionem doch keine Zeit zum Lauschen längerer (Wort-)Beiträge. So entsteht der Verdacht, daß ein Auswahlkriterium für die nun zu hörende, sehr junge Literatur ist, sie der Hörerschaft bekanntzumachen, als „am... bei...“ erscheinend oder erschienen. Wer darüberhinaus erfährt, daß der soeben vorgelesene Roman „auch als Hörbuch am... bei...“ erschienen ist oder erscheinen wird, darf sich umworben fühlen...

Abgeschlossen am 29. Juli 2006

Lesen Sie (kritische) Rezensionen zu den im Artikel genannten Werken:

Steinunn Sigurdardóttir, Die Liebe der Fische
Eine isländische amour fou, mit großer Behutsamkeit erzählt
Literaturdatenbank des Österreichischen Bibliothekswerks

Martin Walser, Angstblüte
Karl von Kahn ist wohl verrückt geworden. Seine Busenträume haben ihn final verwirrt. Die Lebensgier, die Angst vor dem Tod haben ihn Anstand und Verstand gekostet. Schamlos geht der Mensch zugrunde.
Spiegel Online, übernommen von der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung (FAS), noch krasser: Rezension in der gedruckten SPIEGEL-Ausgabe 29/2006, S. 134 f.

Cecelia Ahern, P.S. Ich liebe Dich
Das Buch muss sich noch ueberlegen was es will...
- nette Urlaubslektüre
- gefühlsduselig
- komisch, da man nicht weiß, ob es ein ernstes, trauriges Buch ist, oder ein etwas schlechterer „Abklatsch“ von Bridget Jones

Bücher bei SWR3, Rezensionen von Hörern

Colette, Chéri
Welche Intelligenz, welches Wissen um die am wenigsten eingestandenen Geheimnisse des Fleisches! (André Gide)
Rezensionen bei der Brigitte Hörbuch Edition

Lesen Sie Buchvorstellungen auf der Homepage von NDR Kultur:

Steinunn Sigurdardóttir, Die Liebe der Fische
Steinunn Sigurdardottir, eine der profiliertesten Erzählerinnen Islands, ist ein wundersam schwebendes Stück Prosa gelungen, in dem sie die Herzen ihrer Protagonisten bis in die kältesten Winkel auslotet.
NDR Kultur, 24. Januar 2006, Zum Lesen empfohlen

Martin Walser, Angstblüte
Und so ist „Angstblüte“ vor allem ein Roman über Täuschungen und Selbsttäuschungen
NDR Kultur, 10. Juli 2006

Cecelia Ahern, P.S. Ich liebe Dich
Dass ausgerechnet eine ganz junge Autorin, erst Anfang zwanzig, einen solchen Stoff in einem Debütroman so anrührend und sinngebend gestaltet, ist ein unerwarteter Glücksfall für die Literatur.
NDR Kultur, 3. April 2006

Joyce Carol Oates: Schwarzes Wasser
Äußerst produktive Schriftstellerin
NDR Kultur, 21. Oktober 2004

Colette, Chéri
Colette ist in jeder Hinsicht ein Sonderfall in der Weltliteratur, vor allem wohl deshalb, weil hier eine Schriftstellerin „klassisch“ wurde, die jahrelang als Verfasserin so genannter „leichter“ Bücher galt.
NDR Kultur, 6. Juli 2004