NDR Kultur: Lieblos, Phantasielos, Blamabel

NDR Kultur, am 22. Februar 2006 und am 4. März 2006

Jahrestage und Jubiläen auf NDR Kultur, zwei typische Ausrutscher:

In vier Jahren feiern wir wirklich Chopins 200. Geburtstag -
Verkorkste Feier zur Schwanensee-Uraufführung vor 129 Jahren

Warum preist uns NDR Kultur krumme Gedenktage an? Der Hang zur Übertreibung ist ein Kind der Werbung

Einleitung und Vorgeschichte

Zwischen 6 und 8 Uhr sowie irgendwann am Nachmittag werden normalerweise, aber zu unregelmäßigen Zeiten, von den NDR-Kultur-Moderatoren Gedenktage verlesen, eingestreut, vielleicht auch kurz kommentiert. Als Hörer wundert man sich, nach welchen Gesichtspunkten die Thematik und die oftmals krummen Jahrestage zustandekommen. Am 17. Juni 2005 sind wir schon einmal im Zusammenhang mit dem 60. Geburtstag des belgischen Radrennfahrers Eddy Merckx und des - von NDR Kultur fälschlich angenommenen - 88. Geburtstages von Dean Martin diesem Phänomen nachgegangen.

NDR Kultur scheint aus seinen Fehlern nicht lernen zu wollen. Deshalb fassen wir einmal mehr nach.

Gedenktage und „Kalenderblätter“ können eine sinnvolle Bereicherung des Programms sein

Ein Sender kann zu Jahrestagen Wissenswertes vermitteln, wenn er in einer Musiksendung die Moderation zu einer Komposition entsprechend erweitert, so wie es häufig bei vernünftigen Musiksendungen geschieht, die es allerdings tagsüber auf NDR Kultur seit mehr als zwei Jahren nicht mehr gibt.

Oder ein Sender kann eine interessante tägliche Sendereihe zu Gedenktagen machen, wenn er sich jeweils einen neuen thematischen Schwerpunkt aussucht, eine wenig bekannte oder unbekannte Geschichte dazu erzählt, die Neugierde befriedigt oder weckt, und wenn er sie in eine Wortsendung integriert, statt sie NDR-Kultur-mäßig als Drei-Minuten-Clip zwischen Musikstücke zu klemmen. Solche „Kalenderblätter“ können sehr abwechslungsreich sein, es gibt sie zum Beispiel bei MDR Figaro oder bei Deutschlandradio Kultur. Übrigens handelt es sich dort um Jahrestage mit einer Null (0) oder Fünf (5) an letzter Stelle.

Ganz anders die Praxis von NDR Kultur. Dazu zwei Beispiele aus letzter Zeit.

NDR Kultur feiert Chopins 196. Geburtstag - der Moderator sucht verzweifelt einen Ausweg

Am 22. Februar 2006 gedachte der Moderator um ca. 7.40 Uhr - nach anderen Erinnerungsdaten - des 196. (in Worten: einhundertsechsundneunzigsten) Geburtstags Chopins. Festlich, große Gesten sind ja bei NDR Kultur keine Seltenheit, war auch schon ein Klavierstück Chopins eingeplant - der Walzer As-dur, op. 34 Nr. 1, mit Mikhail Pletnev - und eine Chopin-MP3-Musikdatei klickbereit. Die Biografen sind sich zwar nicht einig, ob Chopin am 22. Februar oder am 1. März 1810 geboren wurde (siehe den Eintrag bei Wikipedia), Sie können selbst nach dem Klicken auf den jeweiligen Geburtstag auf den dann erscheinenden Seiten feststellen, dass Chopin an beiden Tagen in den Geburtstagsübersichten erscheint. Doch egal.

Einhundertsechsundneunzig (196)?

Da stutzt der Moderator. Er wundert sich laut über die krumme Zahl. Und er beginnt zu philosophieren. Feiern wir nicht gerade ganz groß den 250. Geburtstag, na ja, von Wolfgang Amadeus Mozart? Und der Moderator verkündet: In vier Jahren feiern wir wirklich Chopins 200. Geburtstag. Großartig! In x Tagen und y Jahren habe ich meinen nächsten runden Geburtstag... Warum hat NDR Kultur den Hörer unnötigerweise mit diesem Klamauk genervt? Warum hat man sich das ganze Theater nicht einfach erspart?

Verkorkste „Feier“ zur Schwanensee-Uraufführung vor 129 Jahren

NDR Kultur feiert weiter. Am liebsten aber unter sich, privatissime, aber als Ereignis für die „Kultur“-Gemeinde, die dem Jingle folgt. So geschehen am 4. März 2006. Zwar kündigt der Moderator um 16.06 Uhr verheißungsvoll an:

Sie hören Kunstwerke unter anderem von Peter Tschaikowsky - da gibt's nämlich ein kleines Jubiläum zu feiern -, außerdem von Johann Sebastian Bach, Luigi Boccherini und jetzt von Johannes Braaahms.

doch er teilt eine halbe Stunde später, als es nach zwei Filmmusiken und Oscar-Geschichten aus Los Angeles endlich soweit ist, weder mit, welches Jubiläum es denn zu „feiern gibt“, noch dass ein Tschaikowsky-Satz jetzt startet. Noch schlimmer: der Geburtstagssatz wird - sehen Sie es sich in der Grafik an - aus dem Jingle heraus gesendet, geboren! Was für ein Geburtstag!

Bevor der Hörer irgendein Tschaikowsky-„Jubiläum“ würdigen kann, wird er erst einmal von der Tollkühnheit des NDR-Kultur-Tontechnikers ergriffen. Vielleicht ist er aber auch eher über die zusätzliche Zerstückelung eines „Kunstwerks“ entsetzt, von dem der Moderator so verheißungsvoll sprach.

Um 16.42 Uhr löst der Moderator schließlich alle Rätsel auf:

Musik zu einem kleinen Jubiläum: heute vor 129 Jahren, am 4. März 1877, wurde Peter Tschaikowskys „Schwanensee“ an der Moskauer Oper uraufgeführt. Hier auf NDR Kultur hörten Sie daraus den Walzer, gespielt vom Chicago Symphony Orchestra, am Dirigentenpult: Georg Solti.
(Lesen Sie das Wortprotokoll des Tschaikowsky-„Jubiläums“ mit zusätzlichen Merkwürdigkeiten)

Der Hörer fühlt sich hintergangen. Warum zu Beginn eine Störung und die Aufklärung erst dann, wenn alles vorbei ist?

„Schwanensee“ - auf NDR Kultur tagsüber ein ständiger Begleiter mit wenigen Sätzen

Dann fragt er sich: Gibt es auf NDR Kultur nicht ständig Einzelsätze aus dem „Schwanensee“-Ballett zu hören?

Wir haben ein bisschen nachgezählt: Seit Mitte Mai 2004 - die Listen von NDR Kultur sind allerdings nicht vollständig - wurden mindestens 168 x Einzelsätze gespielt. In den letzten 60 Tagen waren es 18  Einzelsätze, also im Schnitt etwa 2  pro Woche, und zwar die Sätze „Czárdás“ (2 x), „Moderato“ (1 x), „Neapolitanischer Tanz“ (1 x), „Pas de deux“ (3 x), „Spanischer Tanz“ (6 x) und „Walzer“ (5 x). Der „Walzer“ kam also zusammen mit dem „Spanischen Tanz“ besonders oft vor.

Warum soll man dann für diesen ständigen Begleiter, den es nur zerstückelt und ausgedünnt gibt, noch feiern?

Warum „feiert“ NDR Kultur ein „kleines Jubiläum“?

Und der Hörer wundert sich schließlich: Was ist das mit dem „Jubiläum“, einem „kleinen“ zwar, aber immerhin? „Vor 129 Jahren...“

Machen Sie selbst einen Test: Geben Sie bei einer Suchmaschine den Ausdruck „kleines jubiläum“ ein (mit An- und Ausführungszeichen) und gehen Sie über mehrere Seiten die Fundstellen durch. Sie werden schon von der Zahl Fünf (5) an nur kleine Jubiläen“ finden, die eine Null (0) oder eine Fünf (5) an letzter Stelle haben.

Dazu Ausschnitte aus Wikipedia, der freien Enzyklopädie:

Jubiläum
Unter einem Jubiläum (lat. annus jubilaeus: Jubeljahr) versteht man eine Erinnerungsfeier, einen Geburtstag oder Todestag (oder eine Serie von Feiern) nach Ablauf von 10, 25, 50 oder 100 Jahren. (...) Bereits zum Decennium (zehn Jahre) einzuladen ist unüblich.

Jubeljahr
Das Jubeljahr des mittelalterlichen Christentums wurde alle 50 Jahre als besonders heiliges Jahr ausgerufen, in dem ein besonderer Sünden-Ablass möglich war. Daraus abgeleitet ist die Redenwendung „alle Jubeljahre einmal“, was soviel heißt wie extrem selten, da der Mensch in der Regel nur zwei bis drei dieser Jubeljahre erlebte.

Und in dem Digitalen Wörterbuch der deutschen Sprache (= DWDS) der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften steht:

Jubiläum
Feier zum Gedenken an ein wichtiges Ereignis, das bes. nach 25, 50 oder 100 Jahren festlich begangen wird.

Einhundertneunundzwanzig (129) als „Jubiläum“, „kleines“? Da steht NDR Kultur mit seinem Hang zur Übertreibung allein auf weiter Flur. Der Hörer kommt aus dem Staunen und Wundern über die Überheblichkeit nicht heraus.

Halt, nicht ganz: Da gibt es noch die Werbung. Die macht es auch so.

Warum preist uns NDR Kultur die krummen Gedenktage an?

Zunächst, weil uns die Moderatoren sonst musikalisch kaum etwas zu sagen haben, sie kümmern sich ja vornehmlich um die Star-Vermarktung, um CD-, DVD-, Fernseh- und Veranstaltungstipps.

Außerdem, weil es so kinderleicht ist. Jeden Tag, kurz vor Mitternacht, veröffentlicht die Nachrichtenagentur dpa das „Kalenderblatt“ des kommenden Tages. Dieses wird von vielen Zeitungen und Online-Diensten übernommen, als Beispiele seien hier Web.de (in der Rubrik „Boulevard“) oder rhein-zeitung.de genannt.

Es gibt auch Kalenderdienste für die Musik wie zum Beispiel bei klassik.com mit einer täglichen Übersicht über Jahrestage von Uraufführungen sowie mit Geburts- und Todestagen von Komponisten und Interpreten. Und schließlich kann NDR Kultur die Datenbank seines Musikpools oder auch seines Archivs für „Kalenderblätter“ benutzen. Der kreativen Phantasie von NDR Kultur sind da sicherlich keine Grenzen gesetzt.

Die „Kalenderblätter“ von Wikipedia sind besonders umfangreich - man braucht nur nach einem Kalendertag zu suchen, zum Beispiel nach dem „4. März“, und findet lange Listen zu Ereignissen, Geburtstagen, Todestagen, Feier- und Gedenktagen. Und was treffen wir dort bei den Ereignissen in der Rubrik Kultur?

1877: Das Ballett „Schwanensee“ von Pjotr Iljitsch Tschaikowski erlebt am Moskauer Bolschoi-Theater seine Uraufführung (nach damals in Russland geltendem julianischem Kalender am 20. Februar).

Wie lieblos und wie phantasielos gehen die Programmmacher von NDR Kultur tagsüber mit den „Kunstwerken“, dem kulturellen Erbe um! Sie lassen es auf so viele Blamagen ankommen. Als Ereignisse sind die von irgendeiner Liste aufgeschnappten Gedenktage für den Sender zuweilen peinlich, für den Hörer bleiben es zufällig aufgeschnappte Informationsfetzen.

Feiern erst im Jahr 2027? Nein, es wird anders kommen!

Wenn Sie in 21 Jahren, also am 4. März 2027, NDR Kultur hören, dann dürfen Sie zusammen mit dem Sender endlich das richtige „Schwanensee“-„Jubiläum“ „feiern“... Eigentlich, aber so lange hält dieses Programm nicht durch.

Statt krumme Jubiläen zu feiern, sollte das Programm endlich gründlich aufgeräumt werden. Das Boulevardesque sollte auf einen Sendeplatz zusammengeschmolzen werden, Werbung und Jingle sollten verschwinden, damit die musikalischen Kunstschätze wieder ganz erklingen können.

Geschrieben am 7. März 2006, Autor: Theodor Clostermann

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