NDR Kultur: Stilblüte mit dem Super-Superlativ

NDR Kultur, 13. und 14. April 2006, „Der Programmtipp“, mehrfach
z.B. 13. April, 7.42 Uhr, 14. April (Karfreitag), 11.40 Uhr

Die Matthäuspassion von Johann Sebastian Bach
Die „große Passion“ (Anna Magdalena Bach, um 1750)
„Eines der außergewöhnlichsten und monumentalsten Werke der Musikgeschichte“ (NDR Kultur)

Beispielhafte Diagnose der Superlativ-Grippe

Liebe Programmtipp-Macherin (oder lieber Programmtipp-Macher): Wozu diese unglaubwürdige Sprache?

„Außergewöhnlich“ - das ist zum Beispiel die Tatsache, dass NDR Kultur im Gegensatz zu WDR 3 Klassik, SWR 2 usw. tagsüber im Prinzip nur Einzelsätze sendet. Nein, nicht doch, so ist es im Folgenden nicht gemeint... Nun gut. „Außergewöhnlich“ - so ist die Werbesprache auf NDR Kultur.

Eiffelturm - aufgebläht
Eiffelturm - monumentalst?

„Monumentalst“, das ist wohl der Superlativ von „monumental“.
Gibt es das? Später. Es ist das Adjektiv zu „Monument“. Wenn das den NDR-Kultur-
Verantwortlichen schon zu „akademisch“ ist,

Unsere Moderatorinnen und Moderatoren (...) verzichten bewusst auf akademische Attitüden. Ihr oberstes Ziel ist die Verständlichkeit.

dann tut es uns leid, es gehört zu den Grundlagen der deutschen Sprache, und NDR Kultur hat ja selbst das Fremdwort „monumental“ und die akademische Variante „monumentalst“ eingeführt.

Monument, monumental, monumentalst
Denk mal, denk mehr, denk gründlich...

Ein Monument ist
• nach dem Duden ein „großes Denkmal, Ehren-, Mahnmal“
• nach dem Digitalen Wörterbuch der deutschen Sprache (DWDS) der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften ein „großes Denkmal (...), Kulturdenkmal“ und
• nach Wikipedia „ein bedeutendes oder wichtiges Denkmal von großen Maßen“.

Monumental bedeutet
• nach dem Duden: „in großen Dimensionen gehalten und daher beeindruckend; den Eindruck gewaltiger Größe“ und
• nach dem DWDS: „in großen Dimensionen gehalten, eindrucksvoll, gewaltig“.

Monumentalst bedeutet folgerichtig:
• in größten Dimensionen gehalten, beeindruckendst, eindrucksvollst, gewaltigst.
Da „monumental“ schon fast ein Absolut-Adjektiv wie vielleicht „außergewöhnlich“ oder bestimmt „einzigartig“ ist, das man nicht steigern sollte, ist „monumentalst“
• eigentlich schon an der Grenze des Aussagbaren. Extrem super. Riesigst.
Im Grunde ein Hyperlativ: eine regelwidrige bzw. stilistisch auffällige Vergleichssform (vgl. Wikipedia).

„Monumentalst“ im allgemeinen Sprachgebrauch

Wenn Sie bei einer Suchmaschine „monumentalste“ als Stichwort eingeben, erhalten Sie bei Google 11.900 Fundstellen. Das ist kein Hinweis für einen seltenen Gebrauch.

Die meisten Fundstellen beziehen sich auf einen konkreten Vergleich zwischen mehreren großen Dingen. Beispiele: „Die St.-Michael-Brücke ist die monumentalste Brücke von Gent.“, die Berliner Mauer war „das monumentalste und hässlichste Bauwerk des 20. Jahrhunderts.“ Es sei dahingestellt, ob es sachlich und stilistisch angebracht ist und ob das Wort „größte“ nicht ausgereicht hätte. Maßgeblich ist wohl - ohne es konkret auszusprochen - ein zusätzlicher Schuss Ergriffenheit, Pathos oder Polemik, also Rhetorik.

Dann stoßen wir auf die wirklich größten Dinge, allen voran die Werbenummern. Und schon sind wir bei der Filmindustrie:

King Kong
Wahrlich der monumentalste, grossartigste, spannendste (auch für 3 Stunden) und wahrscheinlich traurigste Streifen in der Filmgeschichte. Noch nie hat mich ein Film so berührt wie „King Kong“ vom Grossmeister der CGI-Effekte und des Hollywood-Blockbuster-Kinos Peter Jackson („Herr der Ringe“ Trilogie).

http://animefreak.hot.lu/kingkong

Ben Hur (1959)
Die Fassung von 1959 gilt bis dato als der monumentalste aller Monumentalfilme. Die Kosten für 50.000 Statisten, 365 Sprechrollen, eine Million Requisiten und über 300 Dekorationen beliefen sich auf über 16 Millionen Dollar.

www.filmzentrale.com

Der längste Tag (1962)
250.000 Mann, 4.700 Schiffe und über 11.000 Flugzeuge - der Sturmangriff der Alliierten auf Hitlers Atlantikwall, die Landung in der Normandie am 6.Juli 1944. Mit einem einmaligen Aufgebot internationaler Stars entstand der wohl monumentalste und dramatischste Kriegsfilm, den Hollywood je produzierte.

www.hollywood-portal.de

Schließlich finden wir eine Stadt in Sachsen, die auf einer Internet-Seite mit Superlativen spielt. Dort kommt das Wort „monumentalst“ auch vor:

Leipzig besitzt das monumentalste Denkmal Europas?
Das Leipziger Völkerschlachtdenkmal, 1913 an historischer Stätte zum 100-jährigen Gedenken an die Völkerschlacht bei Leipzig als Mahnmal des Friedens eingeweiht, ist der größte Denkmalsbau Europas.

Leipzigs Superlativen

Die Stadt Leipzig informiert dort beispielsweise auch noch über die „längste Gebäude-Inschrift Europas“ am Alten Rathaus, über „die erste Tageszeitung der Welt“ und „das älteste bürgerliche Konzertorchester Europas“, das Gewandhausorchester. Der Name Johann Sebastian Bach kommt auf dieser Seite mit Leipzigs Superlativen nicht vor.

„Monumentalst“ in der Musikgeschichte

„Monumentalste Werk der Musikgeschichte“ - da denkt man zuerst an die „Sinfonie der Tausend“ von Gustav Mahler. Zu ihr heißt es bei magazin.klassik.com:

Die Sinfonie Nr. 8 ist Mahlers monumentalste, ist sie doch die Kombination zweier Chorkantaten gewaltigen Zuschnitts: Mahler verbindet den alten Pfingsthymnus von Hrabanus Maurus „Veni, creator spiritus“ mit dem Schlussabschnitt des „Chorus mysticus“ von Goethes Faust II.

Man denkt auch gleich an den „Ring des Nibelungen“ von Richard Wagner. In einem Werbetext für eine „Ersten Hilfe zum ‚Ring‘“ steht:

Einzelne Figuren und Motive aus Wagners opulenter Tetralogie sind wohl jedem bekannt. Aber kaum jemand hat den gesamten „Ring“, seine komplizierte Handlung, seine Entstehungsgeschichte, seine Deutungen und Bedeutungen im Kopf. Dazu ist das Ganze zu komplex - schließlich ist es das monumentalste Werk des Musiktheaters. Hier hilft (...)

Weitere Beispiele:

Wilhelm Furtwängler sagte, das Finale der Fünften Symphonie Bruckners mit ihrer großartigen Gesamtarchitektur sei

das monumentalste Finale der Weltliteratur.

In einem Konzertbericht schreibt DIE WELT am 20. Oktober 2004:

Bruckners Achte, seine monumentalste und längste Symphonie

Ferner:

Mit seinem „Requiem“ schrieb Dvorak 1891 die monumentalste Totenmesse der Musikgeschichte, die vom düsteren Abstieg ins Totenreich bis zum ätherischen Aufstieg zur Erlösung alle Endzeiterwartungen der Menschen in romantischem Überschwang umschreibt.
Programm der Styriarte, Graz 2004, S. 49 (große Pdf-Datei)

23 Jahre nach der Uraufführung des ersten Teiles (DONNERSTAG aus LICHT) bringt Stockhausen sein insgesamt über 29-stündiges Monumentalwerk, an dem er seit 1977 gearbeitet hat, auf der Bühne zur Vollendung. „Stockhausens LICHT-Zyklus ist nach Wagners Ring das monumentalste Ereignis der Musikgeschichte“, erklärt der Leiter der Donaueschinger Musiktage, SWR2 Musikredakteur Armin Köhler.
swr.de/presseservice, 2004 (Die Seite ist nur noch im Cache zu erreichen.)

Wichtige Formulierungen wiederholen sich in den verschiedensten Veröffentlichungen:
„die monumentalste Symphonie“ von Bruckner oder Mahler
• der „Ring“ Wagners, „das monumentalste Werk des Musiktheaters“
• Dvoraks „Requiem“, „die monumentalste Totenmesse der Musikgeschichte“ und
• bei Johann Sebastian Bach (siehe nächstes Zitat): die Matthäuspassion, „die monumentalste aller Kompositionen Bachs“.

Die „Matthäuspassion“ von Johann Sebastian Bach in der Musikgeschichte

Im Internet schreibt magazin.klassik.com zu Bachs Matthäuspassion:

Dieses beeindruckende Werk des Thomaskantors schildert die Leidensgeschichte Jesu, wie sie im 26. und 27. Kapitel des Matthäus-Evangeliums zu lesen ist. Für die Darstellung verwendet Bach zwei Chöre, zwei Orchester und sieben Solostimmen. Die Aufführungsdauer variiert je nach Interpretation zwischen drei und vier Stunden. Diese monumentalste aller Kompositionen Bachs ist von einem tiefen christlichen Glauben geprägt und wurde zur besonderen Gestaltung des Vespergottesdienstes am Karfreitag 1727 in der Leipziger Thomaskirche komponiert.

In der freien Enzyklopädie Wikipedia steht dazu, ganz realistisch und undramatisch:

Die Matthäuspassion, BWV 244, ist eine oratorische Passion von Johann Sebastian Bach, die das Leiden und Sterben Jesu Christi nach dem Evangelium nach Matthäus zum Thema hat. (...) Die Matthäuspassion ist mit über drei Stunden Aufführungsdauer Bachs umfangreichstes Werk. Sie stellt zweifelsfrei einen Höhepunkt seines Schaffens dar und ist zugleich eines der bedeutendsten abendländischen Werke der geistlichen Musik. (...)

Das Stück wurde für zwei „Chöre“ geschrieben, die jeweils aus Gesangsstimmen (Sopran, Alt, Tenor, Bass) und Instrumenten (2 Block- oder Traversflöten, 2 Oboen, 2 Violinstimmen, Bratsche, Basso continuo) bestehen. Im heutigen Sprachgebrauch würde man von „Doppelchor und -orchester“ sprechen. (...) Das Werk entfaltet eine phantastische stereophone Wirkung durch die doppelte Anlage von Chor und Orchester, bei der die Chöre vielfach miteinander einen Dialog führen. Beispielhaft sind hierfür insbesondere jeweils der überwältigende Eingangs- und Schlusschorus zu erwähnen.

Der Oratorienführer von Silke Leopold u.a. (Metzler/Bärenreiter, 2000) schreibt zur Matthäuspassion:

Die „Matthäuspassion“ ist ohne Zweifel das in Anlage und Ausführung anspruchsvollste oratorische Werk Bachs. Diese Einschätzung galt offenbar auch im Hause des Komponisten, wie eine von Anna Magdalena Bach um 1750 geschriebene Notiz belegt, die das Stück als die „große Passion“ bezeichnet.

Die „Matthäuspassion“ von Johann Sebastian Bach auf NDR Kultur

„Eines der außergewöhnlichsten und monumentalsten Werke der Musikgeschichte“,

so posaunte der Sender NDR Kultur seinen „Programmtipp“ wiederholt und besonders laut in den Äther hinaus. Ganz ähnlich auch schon im Jahr 2004.

Auf einer Internet-Seite von NDR Kulur aus dem Jahr 2004, deren Text vielleicht die Vorlage für den aktuellen Werbespruch war, ist das Riesige noch auf Bach allein bezogen und nicht so übertrieben formuliert: „Johann Sebastian Bachs gewaltigstes Werk“. Aber der andere Teil ist schon damals fest gemeißelt: „Eines der außergewöhnlichsten Werke der Musikgeschichte“. Wozu - außer zu Effekthascherei - nützt diese inhaltsleere Superlativ-Hülse des „außergewöhnlichsten Werks“? Und: Warum hat NDR Kultur mit dem „Monumentalsten“ absichtlich noch einen Super-Superlativ draufgelegt?

Nebenbei sei noch bescheiden angefragt, weil es nicht zusammenpasst: Wenn ein Werk schon als „eines der monumentalsten Werke der Musikgeschichte“ herausgestellt wird, dann ist es logischerweise auch „außergewöhnlich“. Was soll dann der Unsinn mit dem zusätzlichen Super-Extra: „eines der außergewöhnlichsten Werke der Musikgeschichte“?

Also reduziert sich der Werbespruch auf: „Eines der monumentalsten Werke der Musikgeschichte“.

NDR Kultur - Warum so marktschreierisch?

Mit dieser Super-Erhöhung steht NDR Kultur musikwissenschaftlich alleine da.

NDR Kultur - einzigartigst.

Denn alle zitierten Bezeichnungen mit dem Wort „monumentalst“ waren mit Einschränkungen verbunden: die Symphonien von Bruckner oder Mahler, Werke des Musiktheaters, Totenmessen, Werke von Johann Sebastian Bach und - die gewagteste Formulierung, vom SWR - das monumentalste Ereignis der Musikgeschichte nach Wagners „Ring“.

Diese Formulierung „Einer/Eine/Eines der [Adjektiv 1]-sten und [Adjektiv 2]-sten Komponisten/Interpreten/Dirigenten/Werke der Musikgeschichte/des x.-ten Jahrhunderts/der Musikszene usw.“ ist tagtäglicher Standard für die Trailer-Produktion der Programmtipps von NDR Kultur. Ihre Werbesprüche sind in der Regel inhaltlich übertrieben. Das muss schnellstens korrigiert werden. Außerdem sind sie unerträglich laut. Als Störelemente zwischen Musikstücken müssen sie abgeschafft werden.

Wenn ein aufgeschlossener Hörer dem NDR diese ständigen Super-Superlative oder Hyperlative, diese N-D-R-Lative nicht abnimmt, wendet er sich - auch deswegen - enttäuscht vom Sender ab. Und er fragt sich bei diesen Übertreibungen, welcher Wahrheitsgehalt dann vom aufgeblasenen Superlativ des Besten am Norden“ übrigbleibt.

Eiffelturm real

PS.: Kaum ist der Artikel veröffentlicht, meldet uns ein Hörer von seiner Autofahrt nach Hannover:

Als der Moderator heute um 17.55 auf die Abendsendung mit den großen Stars hinwies, tat er es mit den von meiner Frau sofort notierten Worten:

„Eine der außergewöhnlichsten Musikerkarrieren aller Zeiten: Arthur Rubinstein...“

Es wird allerhöchste Zeit, dass ein Impfstoff gegen die im Hamburger Funkhaus grassierende Superlativ-Grippe entwickelt wird.

Dass Ansprüche des öffentlich-rechtlichen Rundfunks auch anders formuliert werden können, bewies SWR-Intendant Peter Voß in der auf der Rückfahrt im DLF gehörten Ansprache zum 60. Geburtstag des SWR-Sinfonieorchesters. Er zitierte u.a. den Dirigenten Michael Gielen mit dem Gedanken „Für die Kunst darf man auch das Gehirn bemühen.“

16. April 2006, 23 Uhr

Lesen Sie außerdem zum Thema Superlativ und N-D-R-Lativ:

Stilblüte mit dem Superlativ
Wird der Moderator der Nachmittagssendung die Grenzen der deutschen Sprache durchbrechen?
Moderation: Schuberts Sinfonien Nr. 1 bis 4 für „ein gigantisches Orchester“
Ist dann die Besetzung der Symphonie fantastique von Hector Berlioz „super-gigantisch“, von Mahlers 9. Sinfonie „hyper-gigantisch“?
NDR Kultur, 6. April 2006, Moderation