NDR Kultur, Musik + Moderation, Dokumentation

NDR Kultur, Mittwoch, 20. September 2006, 7.59 bis 8.00 Uhr, Musik + Moderation

Zitat von NDR Kultur zu einem eigenen Satztorso von 34 Sekunden:
„Das Consortium Classicum spielte den ersten Satz aus dem Divertimento Es-dur von Joseph Haydn.“

Ein Kürze-Rekord und drei Fehlinformationen

Vorbereitete und vertuschte Verstümmelung eines Divertimento-Satzes von Joseph Haydn auf NDR Kultur

Das Formatradio treibt seltsame Blüten, um 18 freie Sekunden zu füllen

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Das zu berichtende Erlebnis mit NDR Kultur ist zeitlich eine Belanglosigkeit, als Vorgang aber erschreckend. Jetzt muss man auch noch darum kämpfen, dass NDR Kultur ganze Sätze spielt!

Mittwoch, 20. September 2006. Der Moderator sagt gerade das zweite Musikstück nach der Morgenandacht ab:

Das Prager Kammerorchester mit dem ersten Satz der Sinfonia B-dur von Josef Myslivecek.

Es ist jetzt 7 Uhr, 59 Minuten und 20 Sekunden. Das ergibt sich aus dem Vergleich mit der Zeitansage von 7 Uhr und der späteren, dazu sekundengenauen von 10 Uhr (alle Zeiten nach der eigenen präzisen Videoband-Aufzeichnung von 6 bis 10 Uhr). Da NDR Kultur vor der Zeitansage immer erst den Nachrichten-Jingle-Trailer „NDR Kultur - Nachrichten“ in einer Länge von 7 Sekunden sendet, würde es ohne weiteres bis dahin eine Pause von 33 Sekunden geben.

Natürlich darf auch jetzt die Eigenwerbung nicht fehlen

Das entspricht jedoch keineswegs der Praxis von NDR Kultur, es gibt dort keine leere Sende-Sekunde. Und es fehlt auch noch die vor 8 Uhr übliche Eigenwerbung, der thematische Hinweis auf den Kultur-Informationsblock „Aktuell“ von 8.03 bis 8.08 Uhr. Kein Thema, da ist er schon:

Heute beginnt in Berlin Europas größte Fachmesse für Popmusik und Entertainment, die popKOMM. Thema gleich bei „Aktuell“ mit Martina Kothe, nach den 8-Uhr-Nachrichten auf NDR Kultur. Zum zweiten Mal sind auf der popKOMM auch 50 Unternehmen aus der Klassik-Sparte dabei.

Der Hinweis dauert 15 Sekunden. Kürzer geht es nicht, weil für den Sender die Teilnahme der Klassik-Sparte die wichtigste Information ist. Bis zum Nachrichten-Jingle-Block bleibt noch ein nichtverplantes Zeitmaterial von 18 Sekunden. Was fängt NDR Kultur bloß mit so viel freier Sendezeit an?

Erfahrungsgemäß hält NDR Kultur die Zeitansage zur vollen Stunde oft nicht genau ein. Der Sender kann den Zeitpunkt der Nachrichten selbst festlegen, sie werden - auch weil sie auf 3 Minuten gekürzt sind - unabhängig von NDR Info gelesen. In einer gehetzten Situation kommt zum Beispiel heute die Zeitansage „Neun Uhr“ erst um 9 Uhr und 18 Sekunden (verglichen mit 7 Uhr und 10 Uhr).

Der Sender könnte - mit einer einmal wieder etwas verschobenen Zeitansage - sofort mit den Nachrichten anfangen. Doch NDR Kultur geht einen anderen, einen für uns neuen, unerwarteten Weg, den Weg der Manipulation und Vertuschung. Wir hören unmittelbar noch einmal Musik. Sie dauert 34 Sekunden.

Musik für Holzbläser in einer Dauer von 34 Sekunden - Kürze-Rekord

Jetzt ist es 8 Uhr und 9 Sekunden. Wegen des noch fehlenden Nachrichten-Jingle-Trailers hat der Sender schon 16 Sekunden überzogen. Und aus urheberrechtlichen Gründen muss der Moderator wenigstens noch die Musik absagen, zusammen mit kleinen Pausen dauert dies 6 Sekunden:

Das Consortium Classicum spielte den ersten Satz aus dem Divertimento Es-dur von Joseph Haydn.

Auf der Suche nach der Wahrheit: 3 Fehlinformationen von NDR Kultur

In 34 Sekunden hat NDR Kultur angeblich „den ersten Satz aus dem Divertimento Es-dur von Joseph Haydn“ gespielt. Nicht nur die ungewöhnlich kurze Zeit, sondern auch zwei Tatsachen haben mich misstrauisch gemacht: erstens wird kein Thema an verschiedenen Stellen wiederholt, zweitens erklingt nach einer Unisono-Passage, einer Art Coda, und einer Klarinetten-Kadenz schließlich ein markantes Thema, das sich von dem Thema zu Beginn deutlich unterscheidet.

Weil der NDR der Initiative Das GANZE Werk das Bereitstellen des Originaltons auf der Homepage verbietet, möchte ich den Ablauf an der grafischen Darstellung des Originaltons im Tonbearbeitungsprogramm ersatzweise verdeutlichen.

Sie sehen hier das rechte Tonsignal, das linke sieht ganz ähnlich aus. In der Waagerechten wird der Zeitablauf dargestellt. Ein kleines Rechteck enspricht in der ersten und vierten Grafik dem Ablauf einer halben Sekunde, in der dritten Grafik dem Ablauf von 5 Sekunden. In der Senkrechten wird spiegelbildlich die jeweilige Lautstärke angezeigt, ein „Berg“ (nach oben und unten) ist eine lautere Stelle, ein „Tal“ eine leisere. Musikpassagen sehen wegen gleicher Strukturen ausgeglichener, Wortpassagen unregelmäßiger aus.

Nach der „noch nicht vollständigen“ Auflistung von www.klassika.info gibt es von Joseph Haydn im Hoboken-Verzeichnis zur Zeit 28 Divertimenti in Es-dur. Es ist also Unwissenheit oder musikalische Gleichgültigkeit, wenn der Moderator ohne ein weiteres Detail von dem Divertimento Es-dur von Joseph Haydn“ statt von einem Divertimento in Es-dur usw. spricht. Fehlinformation Nr. 1.

Nun war ich neugierig geworden und durchsuchte mein Archiv nach den Stichworten „Joseph Haydn“, „Divertimento“ und „Es-dur“. Schon bei dem zweiten Divertimento wurde ich fündig, allerdings nicht im ersten, sondern erst im dritten Satz. Fehlinformation Nr. 2.

Gleichzeitig bestätigt sich der Anfangsverdacht: NDR Kultur hat nicht den ganzen „Satz“ gesendet, der eine Länge von 2 Minuten und 24 Sekunden hat, sondern nur die letzten 34 Sekunden. Fehlinformation Nr. 3.

Der neue Satztorso von NDR Kultur beginnt mit dem Nebenthema - eine vorbereitete und vertuschte Verstümmelung

Der Satztorso stammt aus dem Satz „Gavotte. Allegro“, den NDR Kultur ab und zu sendet, vom Divertimento Hob II: Es 13. Es handelt sich um ein Bläseroktett für 2 Oboen, 2 Klarinetten, 2 Hörner, 2 Fagotte und Kontrabass ad libitum, das nach Robert Ostermeyer in Leipzig „wohl fälschlich Haydn zugeordnet wurde“. Das Hauptthema und größere Teile des Satzes sind übrigens mit dem Satz „Gavotte“ der „Ankunfts- und Abschiedsparthia“ für 2 Klarinetten, 2 Hörner und 2 Fagotte von Franz Anton Hoffmeister (1754 - 1812) identisch, ich habe es selbst verglichen.

In dem Satz „Gavotte. Allegro“ wird das Hauptthema dreimal angespielt, gefolgt von formal unterschiedlichen Passagen. Das Nebenthema des dritten Teils ist der Beginn des Satztorsos von NDR Kultur. Oder andersherum: der neue Satztorso von NDR Kultur fängt mit dem Nebenthema des dritten Teils an. Nach diesen drei Teilen schließt das Divertimento mit der Unisono-Passage, einer kurzen Klarinetten-Kadenz und - nach der engen Stelle in der Grafik - dem zweimal gespielten Hauptthema.

Von einer auf Videoband aufgezeichneten Aufnahme - ebenfalls mit dem Consortium Classicum - können Sie hier aus dem 3. Satz hören:
- der von NDR Kultur gesendete Satztorso von 34 Sekunden (233 kb) und
- den ganzen dritten Teil und den Schluss in einer Dauer von 52 Sekunden (354 kb).

Coda

8 Uhr und 15 Sekunden. Die vorbereitete und verschwiegene Manipulation des Divertimento-Satzes von Joseph Haydn ist verklungen, die dreifach unwahre Moderation hat den Weg zu staunenden Ohren gefunden. Es folgt der 7 Sekunden lange Nachrichten-Jingle-Block.

8 Uhr und 22 Sekunden. Endlich ist die Zeitansage „Acht Uhr“. zu hören. Sie hat eine Verspätung von 22 Sekunden.

18 Sekunden zu früh oder 22 Sekunden zu spät, eine lächerliche Alternative. Mit dem rücksichtslosen Anklicken eines Satztorsos aus der PC-Schublade „Kurze Stücke“ treibt NDR Kultur den Formatierungskult auf die Spitze. Welch eine Respektlosigkeit gegenüber dem Komponisten!

Hält NDR Kultur noch weitere Skandal-Machwerke bereit? Als mögliche Format-Lückenbüßer?

Theodor Clostermann, geschrieben am 23. und 24. September 2006

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