Kulturelle Berichterstattung auf NDR Kultur

NDR Kultur, 23. und 24. Oktober 2008, jeweils 6 bis 8.08 Uhr

Gibt es bei NDR Kultur einen roten Faden? Ja... - und nein.

Interview mit einer regelmäßigen und aufmerksamen Hörerin

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Das Gespräch wurde am Sonnabend, 25. Oktober 2008, ab 15.20 Uhr aufgezeichnet.

Theodor Clostermann: Guten Tag Frau Gannz-Ohr, Sie gehören doch zu den wenigen, die vor Jahren NDR 3 und Radio 3 gehört haben und jetzt noch NDR Kultur regelmäßig hören. Darf ich Sie einmal etwas Interessantes fragen?

Barbara Gannz-Ohr: Ja, gerne, ich hab Zeit.

T.C.: Wissen Sie, was ein roter Faden ist?

B.G.: Also, mit Politik und Vetternwirtschaft will ich nichts zu tun haben. Ach so... Garnrollen und Nähzeug hab ich nicht mehr. Wenn etwas kaputt geht, dann kaufen wir gleich etwas Neues...

C.T.: Frau Gannz-Ohr, ich möchte mich mit Ihnen über etwas Höheres unterhalten. Sie hören doch regelmäßig NDR Kultur?

B.G.: Was hat das mit einem roten Faden zu tun?

C.T.: Warten wir's ab. Also, wissen Sie, was ein roter Faden ist?

„Den roten Faden gibt es auf NDR Kultur nicht mehr“

B.G.: Na ja, wenn wir von etwas Höherem sprechen... Wenn zum Beispiel ein Redner einen guten Gedanken hat, ihn zu einem überrraschenden Schluss weiterentwickelt und auf dem Weg dahin - das ist dann der rote Faden - interessante Bilder, Vergleiche, Argumente benutzt. Das kann richtig spannend sein, auf diesem Weg lasse ich mich gerne mitziehen, wenn der Redner Recht hat. Was hat das aber mit NDR Kultur zu tun?

C.T.: Sind Sie diesem roten Faden auf NDR Kultur von 6 bis 19 Uhr begegnet?

B.G.: Ja. Früher, das ist aber schon lange her, da gab es sogar über drei Stunden lang in der Matinee einen roten Faden, wenn Herr Knauer, etwas theatralisch zwar, uns beispielsweise musikalisch durch einen politischen Gedenktag geführt hat. Auch mit ganzen Werken, da konnte ich mich so richtig in die besprochene Situation hineinversetzen. - Aber heute? Das ist eine schwere Frage. Also bei der Morgenandacht zum Beispiel, nein, die ist ja viel zu kurz, da kann ein Geistlicher ja kaum etwas gedanklich ausführen, und schon wieder geht es weiter. Ich hab mal auf die Uhr geschaut, weil es mich so oft ärgert: 2 Minuten und 25 Sekunden dauert das. Nein, und bei so einer CD-Vorstellung, da sagen die dann ganz huschig „aktuelle CD“ oder „neue Einspielung“ als Erkennungszeichen dazwischen, da komme ich gar nicht mit. Wenn die - ungestört höchstens 12 Sekunden lang - ein Musikbeispiel bringen und ich noch überlege, woher es kommt, sind die schon beim nächsten Ausschnitt oder bei der CD-Firma. Nein, den roten Faden gibt es da nicht mehr.

C.T.: Meinen Sie, dass man das so allgemein sagen kann, darf? Überlegen Sie doch auch, wenn wir das so veröffentlichen?

„Und doch: NDR Kultur lebt von roten Fäden...“

B.G.: Stimmt, Sie haben Recht. Da ist mir doch noch etwas eingefallen. NDR Kultur ist - das habe ich vorher vergessen - voll von roten Fäden. NDR Kultur lebt geradezu von roten Fäden.

C.T.: Das verstehe ich jetzt nicht, das kann ich mir auch gar nicht vorstellen. Meinen Sie vielleicht einen Thementag?

B.G.: Nein, den habe ich leider noch nicht miterlebt. Aber wieso kommen Sie nicht drauf, Sie hören doch so oft NDR Kultur. Das müssen Sie doch merken. Das spürt doch jeder, wenigstens meiner Bekannten, mit denen ich darüber spreche.

C.T.: Sie bringen mich in Verlegenheit. Das kann doch eigentlich nicht wahr sein.

B.G.: Doch. Schauen Sie. Ich habe ein akustisch-fotografisches Gedächtnis, das Radio im Ohr und die Uhr im Blick - weshalb Sie mich ja angerufen haben - und ich mache es Ihnen an einem Beispiel deutlich.

C.T.: Nun bin ich gespannt.

B.G.: Da war doch neulich am Mittwochabend die Diskussion im NDR-Studio über die Elbphilharmonie, der Titel lautete „NDR Kultur kontrovers - ‚Die Zukunft der Musikstadt Hamburg‘“. Das hat mich sehr interessiert, weil... So ein Super-Wahrzeichen, ein Riesenschiff auf der Elbe, mit Super-Konzerten, ja, aber die Kosten und Pannen! Da weiß ich noch nicht, was ich davon halten soll. Ich wollte da hin, bekam aber keine Karte. Ich kann es mir ja dann am Sonntagabend im Radio anhören. Aber ich war richtig neugierig und habe am nächsten Morgen gleich NDR Kultur eingeschaltet und genau zugehört.

C.T.: Ja, und dann?

Beispiel NDR-Kultur-Berichterstattung über die Elbphilharmonie-Diskussion

B.G.: Es geht ja schon um Viertel nach sechs los, „Blick in die Feuilletons“ heißt das. Da gehört das Thema ja hin. Doch da gab es dazu nichts. Es wurden nur Ausschnitte zum Rauswurf von Frau Heidenreich beim ZDF, ja ja, die Qualtätsdiskussion, und etwas Unwichtiges vorgelesen. Nun gut, dachte ich, wenn heute noch nichts in der Zeitung steht, können die im „Blick in die Feuilletons“ auch noch nichts daraus bringen. Aber es war ja ihre Diskussionsrunde, vorher ihre Sensation. Da muss es doch etwas geben. 6.27 Uhr, wo sonst ein Spruch zum Wachwerden mit NDR Kultur kommt: „Gestern Abend gab es den Auftakt der NDR-Kultur-Veranstaltung und neuen Sendung ‚NDR Kultur kontrovers‘ ... Eine Podiumsdiskussion um ‚Die Zukunft der Musikstadt Hamburg‘. Ganz zentral ging es da auch um die Zukunft der Elbphilharmonie. ... Mehr dazu erfahren Sie natürlich ganz aktuell bei uns gegen 6.45 Uhr.“ Kurz nach halb sieben, nach einem Musiksatz von 6 Minuten, kommt eine automatische Durchsage, ein sogenannter Trailer, „Lauter Lyrik“ um 10.45 Uhr. Jetzt die „Morgenstimmung“ von Grieg, 4 Minuten lang. Nun regen die „Lyrik“ und die „Morgenstimmung“ die Moderatorin auch noch zu einem Gedicht an. Es ist 7.38 Uhr. Couperin. Nur gut 1 Minute lang (es waren genau 74 Sekunden!). Warum so viel Kleinkram? Und jetzt noch eine Ansage zur Elbphilharmoniediskussion, ganz ähnlich wie die erste. Sehen Sie, so machen die das. Noch vier Minuten lang die „Carillons“ von Bizet, die passen ja zu Hamburg wie sonst die Hamburger Glocken von Telemanns „Alstersuite“ nach einer Morgenandacht. Pünktlich um Viertel vor sieben also der Bericht. Die Kultursenatorin, Prof. Dr. Karin von Welck, der NDR-Klangkörperchef, Prof. Rolf Beck, die Intendantin der Staatsoper Hamburg, Simone Young, der Feuilletonchef des Hamburger Abendblatts, Hans-Juergen Fink, und der Konzertveranstalter von Pro Arte, Prof. Hans Werner Funke, werden ausführlich mit ihren Hauptstatements im Originalton gebracht. Von dem aus London zugeschalteten (das wurde nicht gesagt) und in die Enge getriebenen Intendanten der künftigen Elbphilharmonie, Christoph Lieben-Seutter, wird nur die folgende kurze Aussage übermittelt: „Die Klassik erfindet man nicht einfach so neu, und nur deswegen, weil man so etwas, was noch nie dagewesen ist [wie die Elbphilharmonie], macht, kommen nicht plötzlich Leute dahin.“ Irgendetwas Wichtiges fehlte da, wie dürftig vom Sender. Die große „Kontroverse“ wie im Titel genannt erkannte ich nicht. Aber das wurde ja nachgeholt. Um 7.55 Uhr, also schon eine Stunde später, kam die Moderatorin wieder auf das Thema zurück und berichtete stolz, dass nach den Nachrichten in „Aktuell“ über die Diskussion berichtet würde. Hatten sie nicht gerade erst „aktuell“ davon berichtet? Jetzt wurde als wichtigste Aussage von Herrn Lieben-Seutter vorgestellt. „Ich hab im Prinzip überhaupt keine Planung für die Elbphilharmonie zur Zeit. Wir planen die Termine in der Saison 2011/12 mit den Hamburger Orchestern einmal zuerst so, dass alles auch in der Laeiszhalle stattfinen kann im Notfall.“ Warum hatten sie das vorher in 2 Minuten und 45 Sekunden weggelassen und in dem jetzt viel kürzeren Bericht gebracht? Aber Ich konnte wenigstens kombinieren, was da überhaupt besprochen worden war. Da sehen Sie, deshalb erzähle ich das so genau: Da war ein roter Faden drin!

C.T.: Das verstehe ich leider nicht. Das war doch eigentlich, abgesehen von dem einen Kritikpunkt, immer dasselbe, 5x in knapp zwei Stunden. Und dann noch das ganze Drumherum.

B.G.: Das ist es doch gerade. Von 6.27 über 6.38, 6.45 und 7.55 bis 8.03 Uhr ist doch ein Faden gesponnen, sogar mit 3 Knoten. Zwar eigentlich immer dasselbe, mal mehr, mal weniger, aber doch eine beachtliche Leistung. Finden Sie nicht? Da bleibt doch wenigstens etwas hängen.

C.T.: Ach so.

Das Spinnennetz von NDR Kultur

B.G.: Und wenn Sie es genau nehmen, läuft das auf NDR Kultur mit ganz, ganz vielen Themen genauso. Mit CD-Beispielen wie von Albrecht Meyer oder mit Emmanuel Pahud, die jetzt laufend kommen, ist es so. Oder mit Hinweisen für Abendsendungen. Und und und. Das nervt mich zwar ständig. Das sind aber ganz viele, viele rote Fäden. Das ist wie ein Netz von Fäden, wie ein Spinnennetz, das den ganzen Tag durchzieht, zusammenhält und bestimmt. Das ist vielleicht intelligent gemacht. Zu knappe Information wird nicht dadurch besser, dass sie öfters kommt. Und was soll die Musik dabei? Sie sehen es doch an dem Couperin-Stückchen von 1 Minute vor der zweiten Ankündigung der Diskussion: Die Musik wird als Füllmasse zerteilt und zerquetscht. Es wird viel kaputtgeplant.

C.T.: Vielen Dank, Frau Gannz-Ohr, durch Sie und durch NDR Kultur habe ich wieder viel dazugelernt. Danke für das Gespräch.

PS / Keine umfassende Information durch NDR Kultur: Laufend „vergeigt“

20 Minuten später rief Frau Gannz-Ohr aufgeregt noch einmal an, sie habe noch nicht richtig deutlich machen können, wie knapp die NDR-Kultur-Berichterstattung gewesen sei. Und dabei habe NDR Kultur einen Informations- und Kulturauftrag.

B.G.: Übrigens, ich möchte noch etwas ergänzen. Auf der Homepage von NDR Kultur gibt es jetzt einen schriftlichen Bericht, der wieder etwas anders ist und - ohne erkennbare „Kontroverse“ - das Geld- und Terminproblem behandelt. Ich hoffte nun, wenigstens am nächsten Morgen am 24. Oktober 2008, wenn es dazu Zeitungsberichte gibt, mehr zu erfahren. Doch beim „Blick in die Feuilletons“ auf NDR Kultur gar nichts. Es war ja Donnerstag, und da kommt dort immer ein Kinofilm dran, weil an diesem Tag „die neuen Filme in die Kinos kommen“... Und das, obwohl Herr Mischke im „Hamburger Abendblatt“ eine deutliche Zusammenfassung geschrieben hatte: „Das Hoffen auf Konkretes und Konstruktives zur Identitäts-, Termin- und Finanzkrise der Elbphilharmonie war vergeblich, man wurde mit aufgewärmter Luft abgespeist und, wieder einmal, hungrig zu Bett geschickt. Es blieb der Eindruck klaffender Ratlosigkeit an entscheidenden Stellen. Klare Antworten hatten Seltenheitswert.“ Am nächsten Tag legte er in der Zeitung noch nach, wahrscheinlich hatte er sich inzwischen das Video auf der Homepage von NDR Kultur angesehen und sich wichtige Zitate aufgeschrieben. Entsetzt schrieb er: „Vergeigt. Eine Vokabel aus der Branche, in der sich der Wiener Konzertsaal-Manager auf hohem internationalem Niveau auskennt. Doch für die Art und Weise, wie Christoph Lieben-Seutter am Mittwoch sich und seine ins Trudeln geratene Herkulesaufgabe Elbphilharmonie rechtfertigte, entschuldigte und behandelte, fällt einem nichts Milderes ein.“ Und er berichtete von folgender wichtigen Äußerung von Herrn Lieben-Seutter: „er würde am liebsten ein Sabbatical einlegen und wiederkommen, wenn alles fertig wäre.“ Zu diesem Zeitpunkt liefen auf NDR Kultur schon, und zwar um 7.38, 11.13 und 17.18 Uhr, die Sensationstrailer und die Ankündigung zur Sendung am Sonntagabend auf NDR Kultur. Am Sonntagabend werde ich genau zuhören (können), ich danke NDR Kultur dafür, aber auf den ganzen Informationszirkus davor - so wie praktiziert - hätten sie getrost zugunsten einer informativen und erklärenden Sendung mit einem roten Faden als Qualitätssiegel verzichten können.