Das GANZE Werk - Presseschau

Der Tagesspiegel, 2. Dezember 2003

Erste Höreindrücke vom neuen RBB-Kulturradio

Adel und Depression

Die Formate heißen jetzt „Am Morgen“, „Am Vormittag“, „Am Mittag“ ... Pisagerecht eben

Von Kerstin Decker

Die Intendantin hat Tomasi di Lampedusa zitiert. Es muss sich ja alles ändern, damit am Ende alles so bleiben kann, wie es ist, hat Dagmar Reim gesagt, soll Tomasi di Lampedusa gesagt haben. Die RBB-Intendantin meinte, anders als Lampedusa, das neue Kulturradio. Gestern ist es auf Sendung gegangen. Lampedusa wiederum ist dieser untergegangene sizilianische Fürst, der über den untergegangenen sizilianischen Adel seinen einzigen Roman geschrieben hat, den wiederum ein anderer Angehöriger eines gerade untergegangenen Adels, nämlich derer von Visconti verfilmt hat. Wer beider „Leopard“ kennt, weiß, dass es nichts Erhaltenswerteres gab als den sizilianischen Adel, in gewissem Sinne. Er ist trotzdem untergegangen. Aus einem völlig trivialen Grund: Er war nicht mehr zeitgemäß. Insofern klingt die Selbstauskunft des neuen Senders, man bemühe sich „um ein zeitgemäßes und zukunftsfähiges Kulturradio, das auch jüngere und neue Hörer ... interessiert“ schon ein bisschen unheimlich. Der sizilianische Adel, muss man wissen, hat sich auch um einen zukunftsfähigen sizilianischen Adel bemüht.

Was genau im Augenblick des Neustarts untergegangen ist, können wir nach dem ersten Tag noch nicht genau abschätzen. An Stelle von Radio Kultur und Radio 3 haben wir nun also nur noch Kulturradio. Immerhin, Radio Kultur klang eher wie eine Drohung, Kulturradio dagegen klingt wie eine Selbstverständlichkeit. Und weil jeder zeitgemäße Sender einen Spot braucht, folgt jetzt immer die Erklärung „Kulturradio - gehört zum Leben“. Auf jeden Fall gibt es nun keine längeren Hörspiele am Vormittag mehr. Wahrscheinlich wegen meiner Freundin, die beim Autofahren am liebsten Hörspiele einstellt. Und wenn sie schon am Ziel ist, das Hörspiel aber noch nicht, fährt sie manchmal noch eine Runde oder bleibt einfach im Auto sitzen. Ich kenne auch eine Malerin, die malt einfach so lange an ihrem Bild weiter, bis die Sendung zu Ende ist.

Der Kulturradiohörer alten Typs begleitete sein Radio, egal, welche Flexibilität, welche Opfer es von ihm verlangte. Ab jetzt ist das umgekehrt. Nun will das Radio uns begleiten. Das heißt, egal, wann wir einschalten, immer sollen wir das Gefühl haben, nichts verpasst zu haben. Das ist das Apriori eines zeitgemäßen Mediums. Es funktioniert wirklich. Jeden Tag um 10 Uhr 30 gibt es das Fünf-Minuten-Hörspiel. Und morgen kommt schon die nächste Folge von Falladas „Damals bei uns daheim“. Etwas später ist dann Zeit für das Kulturrätsel und die Klassik-Börse. In der Klassik-Börse kann man per Anruf die Mendelssohn-Bartholdy-Aktie abstürzen lassen, so dass sie dann Strauß (Kursgewinner) ausspielen müssen. Denn jedes zeitgemäße Radio ist interaktiv. Und mit Rücksicht auf die jüngeren Neuhörer gibt es nun keine „Ouvertüre“ und keine „Serenade“ mehr, sondern die Formate heißen jetzt „Am Morgen“, „Am Vormittag“, „Am Mittag“ ... Pisagerecht eben.

Liebes Kulturradio, bitte versteh' das jetzt nicht falsch! Auch wenn Du trotzdem noch nicht richtig zeitgemäß sein solltest (eine Neu-und-Weg-Hörerin sagte gerade, von deiner Musik bekomme sie Depressionen) - wir anderen, die Autofahrerin, die Malerin und ich mögen die Unzeitgemäßen und kriegen höchstens Depressionen, wenn Du es machst wie der sizilianische Adel. Und abends dürfen wir Dich ja wieder begleiten. Und am Wochenende sowieso.

Die ersten Erfahrungen mit dem Kulturradio des RBB:
Reingehört - Mit RBB-Kultur durch den Tag
„Das Kulturradio ist ein Tagesbegleitprogramm geworden, das man gerne hört - was will man mehr?“ - Berliner Morgenpost, 2. Dezember 2003
• Adel und Depression - Erste Höreindrücke vom neuen RBB-Kulturradio
Die Formate heißen jetzt „Am Morgen“, „Am Vormittag“, „Am Mittag“ ... Pisagerecht eben
Der Tagesspiegel, 2. Dezember 2003

Bach n Soul - Das RBB-Kulturradio hört sich noch unentschlossen an
Im Tagesprogramm unterbrechen feste Rubriken alle Viertelstunde die Musik
Berliner Zeitung, 9. Dezember 2003
Tralalalaaaa! - So pocht Musik-Trübsal an die Kulturradio-Tür
Der „Kulturradio“-Eintopf soll „die Leute durch den Tag begleiten“
Frankfurter Allgemeine Zeitung, 10. Dezember 2003