Das GANZE Werk - Presseschau

Zwei Leserbriefe zum „Dissonanzen-Quartett“:
Junges Kulturradio kommt alt daher, Der Tagesspiegel, 30. Januar 2004
Furchtbare Erfindung, Der Tagesspiegel, 8. Februar 2004

Teilnehmer des Quartetts:
- Christiane Peitz, Journalistin des „Tagesspiegel“ und der „ZEIT“
- Joachim Huber, Medien-Redakteur des „Tagesspiegel“
- Wilhelm Matejka, Wellenchef von RBB Kulturradio
- Peter Raue, Kulturförderer
Wichtige Argumente:
Peitz: „Ich möchte, dass mir der Moderator, der Klassik präsentiert, die Ohren aufsperrt.“
Huber: „Was viele stört, ist der Terror des Tagesbegleitprogramms - beliebig statt entschieden.“
Matejka: „Das Kulturradio bietet Abwechslungsreichtum. Wir haben endlich die Langatmigkeit abgelegt.“
Raue: „Wegen vier Minuten schalte ich doch nicht mein Radio ein!“

Der Tagesspiegel, 28. Januar 2004

Das Dissonanzen-Quartett

Ein Streitgespräch, dass auch am Nachmittag im Kulturradio gesendet wurde

Das Kulturradio des RBB ging am 1. Dezember auf Sendung. Seitdem hagelt es Kritik, im Tagesspiegel protestierte der Kunstförderer Peter Raue. Höchste Zeit für ein Streitgespräch mit Programmchef Wilhelm Matejka - über Qualitätsradio, den Hörer auf der Straße und neue Ideen.

Joachim Huber: Herr Matejka, in den Berliner Kulturkreisen ist Ihr neues Programm Stadtgespräch: Die Hörer meutern.

Wilhelm Matejka: Eine Meuterei kann ich nicht erkennen. Wir haben am 1. Dezember das Kulturradio gestartet, erwartungsgemäß hat sich eine Reihe von Hörern beklagt. Das wurde weniger, bis zum „Wutanfall“ von Peter Raue im Tagesspiegel und der Replik unserer Intendantin Dagmar Reim.

Huber: Herr Raue, ist Ihre Wut verraucht?

Peter Raue: Keineswegs. In den vielen, vielen Briefen, die mich erreichen, gibt es nicht eine Stimme, die sagt: Du übertreibst. Was mich am RBB so stört, ist die Arroganz: Sie wollen den Aufschrei der Hörer nicht zur Kenntnis nehmen.

Christiane Peitz: Der Sender hat das neue Kulturradio ja gestartet, weil es ein Problem gibt: den Hörerschwund bei den Vorgängerwellen Radio Kultur und Radio 3. Mit 0,9 Prozent Marktanteil bildete man das Schlusslicht aller Kulturprogramme in Deutschland. Hinzu kommt: Die Hörer altern schneller als die Macher. Jetzt scheint es aber ein neues Problem zu geben: Das Kulturradio vertreibt die alten Hörer, ohne neue zu finden.

Matejka: Das ist noch nicht raus. Aber Sie haben Recht. Die Kulturradios sind deutschlandweit in eine doppelte Krise geraten. Das Publikum schmilzt ab, und es wird immer älter. Eine tödliche Gefahr: Das Kulturradio rutscht in Richtung Generationenradio für die 60-Jährigen ab. Wahr ist: Wir haben zu lange an einem Radio festgehalten, das nur einen Teil des potenziellen Publikums zufrieden stellt. Wir waren dabei, uns aus der Gegenwart zu verabschieden. Nun gab es zum 1. Mai 2003 die Fusion von ORB und SFB zum RBB: eine günstige Konstellation für einen Schnitt, eine Neugründung.

Huber: Sie sagen Neugründung. Haben Sie nicht vielmehr mit einem Grundgesetz erfolgreicher Medienarbeit gebrochen und abrupt Bewährtes weggenommen, ohne hörbar Besseres zu liefern?

Raue: Sie haben einen Fleckerlteppich geschaffen, ein „Durchhörradio“, wie Ihre Intendantin Dagmar Reim das nennt: Etwas, was ich den ganzen Tag hören kann. Ich will ein „Einschaltradio“, mit „Gulliver“, mit der Lesung, der „Galerie des Theaters“. Und jetzt? Peter Hans Göpfert muss seine Theaterkritik in zwei Minuten herunterhaspeln, er kann nicht einmal mehr die Namen der Schauspieler nennen. Dann höre ich mir diese hirnlosen Trailer an, halbstündige Nachrichten, die man auch auf Inforadio bekommt. Das Kulturradio unterscheidet sich in nichts mehr von anderen Radioformaten. So werden sie die 0,9 Prozent auf 0,3 Prozent herunterfahren.

Matejka: Ihre Aufzählung führt vor Augen, mit welchen Sendungen wir bis Ende November so erfolglos waren. Wir brauchen auch das Publikum wieder, an dem wir in den letzten Jahren vorbeigefunkt haben. Deshalb haben wir uns nicht für einen schleichenden Übergang, sondern für einen radikalen Schnitt entschieden. Nun machen Sie sogar eine Quotenprognose: Woher nehmen Sie die? Unsere Erfahrung sagt: Jedes Angebot kann frühestens nach zwei bis drei Jahren auf seinen quantitativen Erfolg hin gemessen werden kann. Diese Wette gilt.

Peitz: Aber welche neuen Hörer bekommt man mit Moderationen wie: „Sie hörten den letzten Satz des berühmten und beliebten A-Dur-Klavierkonzerts...“ Wer das Mozart-Konzert kennt, wird sich für dumm verkauft vorkommen. Wer es nicht kennt, dem wird suggeriert, er hätte keine Ahnung. Ich möchte, dass mir der Moderator, der Klassik präsentiert, die Ohren aufsperrt. Und das muss nicht in einer verzopften Weise geschehen. Aber es ist auch eine bedenkliche Haltung, wenn jetzt gilt: Wir erklären die Musik nicht mehr, wir spielen nur noch die kurzen dritten Sätze, Klassik ist tagsüber nur noch Beiwerk und stammt aus der Zeit bis 1850. Auch junge Hörer, wenn sie von ihrem Popsender zu Kulturradio umschalten, wollen sich dort intellektueller, intelligenter fühlen.

Raue: Die Buchkritik am Morgen dauert jetzt vier Minuten und wird im Gespräch mit einem Prominenten absolviert. Das ist die Parodie von Literaturkritik. Ich möchte von einem versierten Kritiker über ein Buch informiert werden. Im Musikbereich ist die Situation genauso: Dieses Haus leistet sich nicht einmal mehr einen Opernredakteur.

Matejka: Frau Peitz, Ihnen sind Fehler aufgefallen, jeder Fehler tut weh. Aber Fehler wurden schon zu SFB 3-Zeiten gemacht. Und Prominente, die Bücher vorstellen, hat es auch früher schon gegeben. Wenn Sie das als Sünde ...

Raue: ... aber nicht in vier Minuten im Dialog ...

Matejka: ...betrachten, dann haben wir diese auch schon früher begangen. So neu ist das Tagesbegleitprogramm doch gar nicht; die „Klassik zum Frühstück“ gibt es seit April 1979. Anfang der Neunzigerjahre haben wir den Vormittag neu gegründet, „Klassik plus“ von 9 bis 12 Uhr. Auch das war schon Tagesbegleitung. Auf diese beiden Formen und Erfahrungen - nicht zu vergessen „Figaro“ in Radio 3 - haben wir gesetzt und das Konzept auf den Zeitraum bis 18 Uhr ausgedehnt.

Peitz: Aber es gibt einen gravierenden Unterschied. Die Moderatoren von „Klassik zum Frühstück“ und „Klassik plus“ haben ihre Musik selbst ausgesucht. Es gab zwischen Wort und Musik einen viel engeren Bezug.

Matejka: In der Tat wird die Musik für das Tagesprogramm nicht mehr von den Moderatoren zusammengestellt, wohl aber in unseren Sendungen ab 18 Uhr.

Huber: Gibt es beim Tagesprogramm eine Art Geschmacksrotation? Die 500 schönsten Klassiktitel werden in einer Woche gespielt, und in der nächsten Woche gibt es das Gleiche, um vier Titel variiert?

Matejka: Nein, anders als bei Pop-Programmen gibt es bei uns keine Rotation, bei uns ist die Musik handverlesen. Vielleicht folgt die Musik im Kulturradio jetzt zu schnell aufeinander. Im Übrigen muss das Verhältnis zwischen Wort und Musik immer wieder überprüft werden. Dabei nehmen wir Kritik ernst: Es kann freilich nicht dabei bleiben, dass wir nur einem Teil des erreichbaren Publikums ein befriedigendes Angebot machen - unter Ausschluss so vieler anderer potenziell Interessierter. Welches Milieu, welche Bevölkerungsgruppe, welcher Hörertypus ist es denn, für den Sie sprechen, Herr Raue?

Raue: Ich glaube, für das Publikum sprechen zu können, das die kulturelle Szene in Berlin bestimmt und trägt. Das am Abend in die Oper, ins Theater geht, das freiwillig Literatur liest, und am Morgen in der Philharmonie ansteht, um eine Karte für Simon Rattle zu ergattern. Das sind nicht nur die 60-Jährigen, sondern auch die 30- bis 40-Jährigen.

Huber: Es geht darum, ob man mit den Methoden des Formatradios ein Kulturradio machen kann. Und um die Frage, warum ich ausgerechnet diesen Sender einschalten soll. Sie müssen starke Einschaltimpulse schaffen, Haltegriffe. Was viele stört, ist der Terror des Tagesbegleitprogramms - beliebig statt entschieden.

Matejka: „Fleckerlteppich“ und „Häppchenkultur“ sind pejorative Begriffe. Man kann es auch anders formulieren: Das Kulturradio bietet Abwechslungsreichtum. Wir haben endlich die Langatmigkeit abgelegt. Schon Kurt Tucholsky wusste ja: Der Berliner hat keine Zeit. Woher sind Sie denn so sicher, dass der heutige Kulturinteressierte überhaupt in der Lage ist, für sein Radio so viel Zeit aufzubringen?

Peitz: Eben weil ich nicht viel Zeit habe, möchte ich auch im Kulturradio schnell informiert werden. Mir wäre eine gehörige Portion Inforadio nur Recht, mehr Aktualität, schnelles Reagieren, etwa wenn der Streit um die RAF-Ausstellung gerade wieder in eine neue Runde geht. Diese schnellen Informationen erhalte ich aber auch nicht im neuen Kulturradio.

Raue: Nehmen wir die „Lesung“, die früher von von 8.30 bis 9.00 Uhr dauerte. Offenbar hatten die Leute morgens Zeit für Literatur. Sie halten das für unzumutbar, das ist nicht nur ein Irrtum, sondern verletzend.

Matejka: Ihr Eindruck speist sich aus dem, was wir „Bekannten-Soziologie“ nennen: „Alle meine Bekannten sagen ...“ Sie kennen Ihre Bevölkerungsgruppe mit einer bestimmten Bildung und einem bestimmten Status durch und durch. Es ist aber Ihr kardinaler Irrtum zu glauben, dass unser potenzielles Publikum nur aus Konzert- und Operngängern besteht. Unser Spektrum geht weit darüber hinaus, auch über die jeweils 36000 Hörer, die wir zuletzt mit Radio 3 und Radio Kultur erreicht haben. Es gibt etliche kulturinteressierte Menschen, die abends nicht in die Philharmonie gehen können. Und was bitte ist so schrecklich an einem Radio, von dem ich weiß, dass ich mir zu jeder beliebigen Tageszeit dort etwas abholen kann, und das mir nicht vorschreibt: Jetzt bitte einschalten?

Peitz: Das Niveau.

Matejka: Sie machen einen Fehler, wenn Sie unterstellen, dass die Hörer des so genannten Durchhörradios blöd sind. 73 Prozent der Berliner Akademiker hören werbetragende Massenwellen. Intelligenz und der neue Typus Radio schließen einander nicht aus. Im Gegenteil: Die altertümlichen Kulturwellen schließen immer mehr intelligente Menschen aus. Wir veranstalten außerdem ja gar kein Fließprogramm, es gibt Einschaltpunkte bei uns. Die Tugend der Verlässlichkeit haben wir vom Einschaltradio übernommen. Der Hörer weiß, dass er um 7.45 Uhr die „Frühkritik“ bekommt, um 9. 15 Uhr den „Geistesblitz“, um 11.30 Uhr die „Leseprobe“ ...

Raue: Wegen vier Minuten schalte ich doch nicht mein Radio ein! Nein, in diesem Punkt werden wir uns nicht einigen. Sie verteidigen das „Durchhörradio“, ich lasse mich aber nicht bedudeln. Ich werde ausschalten und auf CDs und Hörbücher zurückgreifen.

Huber: Herr Matejka, Sie sagten, dass Sie drei Jahre Zeit haben, um das Kulturradio zum Erfolg zu führen. Aber den vielen verstörten Hörern müssen Sie jetzt etwas anbieten.

Matejka: Das tun wir auch. Außerdem: Wir haben Mitte Januar mit einer ersten Inventur begonnen, Mitte Februar werden wir sie abschließen. Zum 1. April wird es Programmänderungen geben, die wir vorher ankündigen werden. Einer der Diskussionspunkte ist in jedem Fall die „Lesung“. Und in drei Jahren, Herr Raue, wissen wir, wer von uns beiden die Wette gewonnen hat.

Eine Funkfassung des Gesprächs sendet Kulturradio (UKW 92,4) heute um 16 Uhr 15.

Der Tagesspiegel, 1. Februar 2004

Leserbrief 1

Junges Kulturradio kommt alt daher

Betrifft: „Das DissonanzenQuartett“ vom 28. Januar 2004

Von Gabriele Riedle, Berlin-Charlottenburg

Sehr geehrtes Kulturradio,

hier spricht Ihr williges Zielpublikum: halbwegs jung, halbwegs gebildet, Freiberuflerin und also eine klassische Durchhörerin, ganz und gar empfänglich und nachgerade abhängig von einem hübschen Tagesbegleitprogramm. So hänge ich seit ungefähr meinem dreißigsten Lebensjahr den ganzen Tag an der Welle - bis dato ohne größere Alterungserscheinungen. Doch nun! Nun bin ich altersmäßig in größter Verwirrung.

War ich zu jung für das alte Programm? Oder bin ich zu alt für das junge Programm? Oder werde ich am Ende - hoffentlich - niemals so alt und so spießig werden wie das blutjunge Programm, das zu hören ich nun gezwungen bin?

Denn nun nimmt mich mein junger, frischer Tagesbegleiter in Form meines Radios an die Hand - und führt mich geradewegs ins akustische Rentnerparadies.

Dort soll ich mich verjüngen. Mit Blumenwalzern, Nußknacker-Suiten, Carmen-Fantasien, mit hier ein wenig Mozart, dort ein wenig Händel, ein paar Walzern, ein paar Märschen, heute in der einen Reihenfolge, morgen in der anderen. Und tatsächlich: Ich werde dramatisch jünger! So ungefähr fünf Jahre alt, denn ich fühle mich zurückversetzt in meine Kindheit, als ich mit meiner Großmutter Wunschkonzert hörte. Das ist schön - für fünf Minuten.

Meint mein Radio wirklich, dass auch ich schon neunzig bin und akustische Kissen brauche? Dass mein Hirn bereits leicht durchlöchert ist, so dass ich „langfädigen Erklärungen“ nicht mehr folgen kann?Irgendwie ist das, wie wenn man mit fünfunddreißig zum ersten Mal einen Platz in der U-Bahn angeboten bekommt - nett gemeint, aber ziemlich beleidigend. So muss ich mich nun leider verabschieden. Auf Wiederhören in dreißig, vierzig Jahren. Dann werde ich vielleicht alt und spießig genug sein für dieses Programm.

Aber was soll ich bis dahin hören?

Der Tagesspiegel, 8. Februar 2004

Leserbrief 2

Furchtbare Erfindung

Betrifft: „Das DissonanzenQuartett“ vom 28. Januar 2004

Von Hella Conrad, Berlin-Wilmersdorf

Ich halte es für das Beste, das RBB-Kulturradio ganz einfach zu streichen, zu löschen. Es ist ja sowieso zu teuer, wie Frau Intendantin Reim erklärte. Mein Vorschlag also: Sparen Sie Geld und Mühe (was werden die Personalkosten sinken, Frau Reim!) und beenden Sie diese entsetzliche Mühe für eine in Ihrem Verständnis unbedeutende Minderheit. Ein gutes kulturelles Programm kann nur mit dem Willen, dem mainstream zu widerstehen, produziert werden.

Lesen Sie: Vom „Wutanfall“ zum Dissonanzen-Quartett
Zum Orkus hinab - Das neue RBB-Kulturradio hat mit Kultur nichts mehr zu tun
Ein Wutanfall - Der Tagesspiegel, 14. Januar 2004

Leserbrief: Die Wahrheit in der Wut - Der Tagesspiegel, 18. Januar 2004

Wahrheit statt Wut - Das RBB-Kulturradio muss Schritt halten mit der Zeit
Eine Replik auf Peter Raue - Der Tagesspiegel, 16. Januar 2004

Leserbrief: Intendantin Reim reagiert hilflos auf Kritik - Der Tagesspiegel, 25. Januar 2004

Proteste zum Frühstück - Durchhörbarkeit nicht erwünscht: Radiohörer gegen den RBB
„Mir ist, als hätte ich einen geliebten Menschen verloren“, schrieb ein Leser
Frankfurter Allgemeine Zeitung, 26. Januar 2004
Von geschredderten Sinfonien und veränderten Hörgewohnheiten
Ist das Kulturzerstörung? Oder zerstört sich hier nicht vielmehr eine Kritik mit ihrer Anspruchshaltung, die in den Siebzigern wuchs, selbst?
Berliner Morgenpost, 28. Januar 2004
• Das Dissonanzen-Quartett - Ein Streitgespräch, dass auch am Nachmittag im Kulturradio gesendet wurde - Der Tagesspiegel, 28. Januar 2004

Mit: Christiane Peitz (Journalistin des „Tagesspiegel“ und der „ZEIT“), Joachim Huber (Medien-Redakteur des „Tagesspiegel“), Wilhelm Matejka (Wellenchef von RBB Kulturradio) und Peter Raue (Rechtsanwalt und Kulturförderer)
Dazu zwei Leserbriefe:
• Junges Kulturradio kommt alt daher, Der Tagesspiegel, 30.1.2004
• Furchtbare Erfindung, Der Tagesspiegel, 8.2.2004