Das GANZE Werk - Presseschau

DIE ZEIT, 26. Februar 2004

Geistesdiät auf NDR

E.T.A. Hoffmann hat das Ende der Radiokultur vorausgeahnt

Von Werner Hofmann

Seit einem Jahr schmückt sich das 3. Hörfunkprogramm des NDR mit dem Etikett „NDR-Kultur“. In der Ansage nennt es sich auch gern „der Klassiker“; wahrscheinlich mit einem Seitenblick auf den Rivalen Klassik Radio, bei dem es sein Handwerk gelernt hat. Im Umgang mit der Unterhaltungsware Musik sind sich der öffentliche und der private Sender zum Verwechseln ähnlich. Der „Klassiker“ ist in Wahrheit ein Kopist.

Tagsüber stimuliert Musik die Lebensfreude der Spaßgesellschaft. Am Morgen soll sie die Schlafmützen wecken und mit Energiestößen versehen. Favoriten der Programmmacher sind die Candide-Ouvertüre, die Wut über den verlorenen Groschen, Polkas und slawische Tänze. Am späten Abend wird dann Cross-over gespielt: Die Moldau, Schubert, abgestandene Filmmusiken, Chansons. In allen Sendungen herrscht neben dem Wechselbad das Häppchenprinzip. Mehrsätziges wird auf einen Satz zusammengeschnitten. Die redselige Ansage hat die Unart des Nichtankündigens entdeckt. Zwar stellen sich die Moderatoren vor, aber von dieser Höflichkeit bleibt die Musik ausgenommen. Über sie erfahren wir in der Regel erst hinterher, wer sie geschrieben und gespielt hat. Auflockerung? Didaktisches Ratespiel? Oder souveräner Verzicht auf den Bildungsballast und seine Konventionen? Mir scheint, dass diese Unsitte gerade dem Vorschub leistet, was man der zerstreuten Aufmerksamkeit vorwirft: dem Verflachen des Zuhörens zum Hören, dem passiven Klangkonsum.

Dafür den gegenwärtigen Zeitgeist verantwortlich zu machen gehört zu den Maximen unserer Kulturkritik. Indes bedachte E.T.A. Hoffmann schon vor zweihundert Jahren den problemabstinenten Kunstkonsum mit dem Wort „Geistesdiät“. Zweck der Kunst, wie er ihn in seinen Gedanken über den hohen Wert der Musik ironisch definiert, seien angenehme Unterhaltung und Zerstreuung. Da sich auch während eines Konzerts allerlei Gespräche über dies und das führen ließen und Musik das Sprechen ungemein erleichtere, sei ihr Unterhaltungspotenzial ungleich größer als das der Literatur. Denn diese habe das Unangenehme, „daß man gewissermaßen genötigt wird, an das zu denken, was man liest. Dies ist aber offenbar dem Zweck der Zerstreuung entgegen.“

Deshalb sind auch die Wortsendungen, die unser „Klassiker“ sich noch gestattet, Fremdkörper, die der Geistesdiät Verdauungsstörungen bereiten. Das gilt - richtiger: galt - für den Reißwolf und die Zeitlupe, die beiden satirischen Wochenrückblicke, die der NDR zum Jahreswechsel einstellte. Die Entscheidung diente offenbar dem Selbstschutz. Eine Satire, die den öffentlichen Phrasenverschleiß bloßstellt, musste abtreten, bevor ihre Köpfe auf die Idee kamen, den Sprachmüll im eigenen Haus zu betrachten.

Diese Randbemerkungen über ein Kapitel der Selbstentmündigung unseres Kulturlebens erheben nicht den Vorwurf des Etikettenschwindels. Die vollmundige Rhetorik des „Klassikers“ wird durch den eigenen Namen des Senders relativiert. Er kündigt an, was kommen wird: Aus „En-de-er Kultur“ lässt sich das Ende der Kultur heraushören.

Der Kunsthistoriker Werner Hofmann war von 1969 bis 1990 Direktor der Hamburger Kunsthalle