Das GANZE Werk - Presseschau

Zitat:
epd: Wird Ihnen nicht bei dem Gedanken bange, Sie könnten möglicherweise die wenigen verbliebenen Stammhörer verprellen, ohne sicher sein zu können, neue zu finden? Dass Sie auf einen Hörertypus setzen, den es vielleicht gar nicht gibt?
Reim: Selbstverständlich. (...)
Was wir verändert haben, ist: Wir haben uns eingestellt auf die Lebenssituation der meisten Menschen, nicht aller. Viele Hörer sind nicht in der Lage, mitten am Tag beschaulich einen 55-Minuten-Wortbeitrag zu genießen. Das mag man bedauern, es ist aber so. Daraus haben wir die Konsequenz gezogen, über den Tag verteilt sehr viele interessante Themen zu platzieren. Und dies keineswegs in Häppchen, sondern die Beiträge sind in sich konsistent, machen Lust auf mehr.

epd medien Nr. 16, 03. März 2004

„Die Chance, Fehler zu machen“

Ein epd-Interview mit RBB-Intendantin Dagmar Reim

Von Günter Herkel

Ausschnitte zum Thema: rbb kulturradio

RBB-Intendantin Dagmar Reim
epd-bild - Schoelzel
epd Neuneinhalb Monate ist Dagmar Reim im Amt: als Intendantin der Fusions-Anstalt Rundfunk Berlin Brandenburg (RBB) - hervorgegangen aus dem Sender Freies Berlin und dem Ostdeutschen Rundfunk Brandenburg. Viel Wirbel hat in ihrer Amtszeit vor allem das neue Kulturradio ausgelöst. Am letzten Februar-Tag ist das gemeinsame Dritte Fernsehprogramm gestartet, das jetzt das Metropolenpublikum Berlins und die Zuschauer des sehr viel ländlicher strukturierten Brandenburgs zusammenführt. Über Erfahrungen, Maßnahmen und Perspektiven sprach Günter Herkel mit Dagmar Reim.

epd: Wenn Sie eine Überschrift für die ersten neuneinhalb Monate Ihrer Amtszeit finden müssten - wie würde die lauten?

Reim: Die kürzesten neuneinhalb Monate meines Lebens.

Bei Ihrem Amtsantritt sagten Sie, es solle bei der Fusion möglichst keine Verlierer geben, die RBB-Mitarbeiter sollten ohne Verlustängste in die Fusion gehen. Haben Sie da nicht möglicherweise allzu große Erwartungen geweckt?

Ich habe die Erwartungen beschrieben, die ich selbst an die Fusion habe. Ich weiß, dass es eine Fusion ohne Ängste nicht geben kann. Ich weiß aber auch, dass die Kolleginnen und Kollegen, die hier im Hause arbeiten, ein hohes Maß an Sicherheit haben, das es in dieser so unsicher gewordenen Gesellschaft der Bundesrepublik Deutschland sonst kaum irgendwo gibt. Das gilt - selbstverständlich mit Abstrichen - durchaus auch für unsere freien Mitarbeiter.

(...)

Der RBB wird perspektivisch durch Programmkürzungen einiges einsparen. Im Hörfunk ersetzt ein neu gegründetes Kulturradio zwei bisherige Programme. Das wirkt sich aber vermutlich kurzfristig noch nicht defizitmindernd aus?

Nein. Wir können und wollen ja unsere Kolleginnen und Kollegen nicht einfach nach Hause schicken. Das führt dazu, dass wir im Kulturradio momentan 49 Redakteurinnen und Redakteure haben. Im Wesentlichen sind die Personalkosten beim neuen Kulturradio identisch mit denen der beiden Vorgänger. Was die Kosten für die Sendungen angeht, ist Kulturradio kein Sparmodell und war auch nie als solches gedacht. Es liegt etwas höher in den Kosten als das alte Programm von Radio Kultur.

(...)

Zu den eher „aphrodisierenden“ Aspekten Ihrer Arbeit, also zum Programm. Am 1. Dezember vergangenen Jahres startete als erste Innovation das neue Kulturradio. Wie gefällt es Ihnen? Ist es so „aufregend, anregend, hintergründig, fantasievoll“, wie Sie es sich gewünscht haben?

Mir gefällt es gut, aber ich bin selbstverständlich nicht mehr in der Rolle der Programmmacherin. Mein Urteil über das Programm ist auch nicht wichtiger als das meiner Kollegen. Radio ist, solange wir es machen, in der Entwicklung begriffen. Deswegen gibt es bei diesem Programm - wie bei allen anderen auch - viele Ideen, die noch etwas verbessern können, und jede Menge Anlässe, das gegenwärtige Konzept zu überprüfen. Das geschieht laufend.

„Jedes Programm ist ein Einschaltradio“

Die Gründung des RBB-Kulturradios geschah nicht nur oder in erster Linie unter Spargesichtspunkten, sondern auch mit der Absicht, etwas Neues zu schaffen. Was hat Sie dazu bewogen, die vorherigen Einschaltprogramme in ein Tagesbegleitprogramm umzuformatieren?

Ich mag diese Begriffe nicht. Jedes unserer Radioprogramme möge man bitte einschalten. Deswegen ist jedes Programm ein Einschaltradio. Jedes unserer Programme möge bitte die Hörerinnen und Hörer gut durch den Tag begleiten. Deswegen ist jedes unserer Pogramme ein Tagesbegleitprogramm. Was wir verändert haben, ist: Wir haben uns eingestellt auf die Lebenssituation der meisten Menschen, nicht aller. Viele Hörer sind nicht in der Lage, mitten am Tag beschaulich einen 55-Minuten-Wortbeitrag zu genießen. Das mag man bedauern, es ist aber so. Daraus haben wir die Konsequenz gezogen, über den Tag verteilt sehr viele interessante Themen zu platzieren. Und dies keineswegs in Häppchen, sondern die Beiträge sind in sich konsistent, machen Lust auf mehr. Am Abend ab 18 Uhr und am Wochenende bieten wir die langen Sendungen, die epischen Darlegungen und die Spezialangebote. Das ist das neue Konzept. Es ist nicht revolutionär, aber es nimmt Rücksicht auf sich verändernde Lebensgewohnheiten.

Haben die Hörgewohnheiten sich wirklich so sehr verändert? Es gab bis 1997 zwei erfolgreiche Kulturprogramme, SFB 3 und Radio Brandenburg, die in der Summe etwa fünf Prozent Reichweite hatten.

Das war schön, aber das hilft uns jetzt leider nicht mehr. Wir hatten bei der Senderfusion im Jahre 2003 anzusetzen, und da war auf beiden Seiten der Glienicker Brücke eine Resthörerschaft von 0,9 Prozent, die uns lieb und teuer ist. Indes: Ein Programm sollte nicht mit seinen Hörern sterben.

Wenn ein Markenartikel nicht gut läuft, gibt es die Alternative, entweder den Artikel vom Markt zu nehmen oder aber den Artikel zu verbessern. Sie haben im Grunde eine Marke durch eine andere ersetzt. Sogar eingeführte Einzelmarken der Dachmarke Kulturradio, also relativ populäre Sendungen, wurden zum Bedauern eines Teils der verbliebenen Hörer vom Markt genommen. War das klug?

Wenn Sie etwas Neues machen wollen, geht das nur, wenn Sie etwas anderes machen. Sonst würden Sie ja ein Programm nicht neu gründen. Sonst würden Sie einfach sagen: Wir stauben hier ein wenig ab und rücken da etwas neu in der Vitrine zurecht, aber es bleibt beim bisherigen Angebot. Die Kolleginnen und Kollegen hatten sich ja entschlossen, ein neues Kulturradio anzubieten - mit vielen Elementen, die bekannt sind, aber eben doch auch mit viel Neuem.

„Wir leben hier nicht in einer Basisdemokratie“

Aus der Kulturredaktion hört man, dass die große Linie vorgegeben war, allenfalls Detailkritik zugelassen und anschließend ein vorher festgezurrtes Konzept durchgezogen wurde. Es wurde als scheindemokratischer Diskussionsprozess bezeichnet.

Wir leben hier nicht in einer Basisdemokratie. Wir leben in einem Unternehmen, und dieses Unternehmen hat eine Verantwortungsstruktur. Die Redaktionen haben ihre Rolle, die Geschäftsleitung auch. Unser Programm entsteht nach einem langen intensiven Diskussions- und Beratungsprozess, aber entschieden werden muss in der Tat von den dafür Zuständigen.

In der Kulturradiodebatte wird mit kuriosen Zahlen operiert. In den vergangenen fünf Jahren sollen die Hörer von RADIOkultur und Radio 3 um mehr als 15 Jahre gealtert sein...

Das ist so. Nach den Ergebnissen der Hörerforschung, auch mich hat das erstaunt, ist das Durchschnittsalter der Hörerinnen und Hörer von RADIOkultur von etwa 47 auf 63 Jahre gestiegen - innerhalb von nur fünf Jahren!

Gut, aber da das biologisch gesehen nicht möglich ist, muss es sich um einen statistischen Wert handeln. Haben sich in diesem Zeitraum die Hörgewohnheiten wirklich so gravierend verändert? Wie konnte es dazu kommen? Es gibt die These, dass Hörer in den vergangenen Jahren systematisch vertrieben wurden - durch ständiges Herumdoktern am Format, durch Frequenzwechsel, Namenswechsel, durch Kooperationen, die unter Ihren beiden Vorgängern streckenweise nicht gut funktionierten...

Ich bin ein bisschen altmodisch, und deswegen werden Sie von mir kein schlechtes Wort hören über Personen, die früher in unserem Sender gearbeitet haben. Mit dieser Haltung bin ich bislang ganz gut gefahren. Die meisten, die heute Kulturradio machen, waren auch schon vor fünf Jahren dabei. Und sie haben sich sehr engagiert an der Diskussion beteiligt.

„Das Programm gilt als Beute“

Sie haben seinerzeit kritisiert, das neue Kulturradio werde verrissen, ehe es überhaupt da sei. Jetzt ist es da, und zumindest der veröffentlichte Tenor und das, was an Hörerreaktionen so bekannt wurde, ist nahezu einhellig ablehnend.

Das kommt immer darauf an, mit wem Sie sprechen. Diese Gemeinschaft der 0,9-Prozent-Getreuen ist sicher nicht zufrieden mit dem neuen Programm. Aber es gibt auch Zustimmung und Ermunterung. Die harsche Kritik an diesem Programm, noch bevor es auf die Welle ging, hat ja auch sehr viel mit self-fulfilling prophecy zu tun. Da wurden wir zum Beispiel dafür beschimpft, dass es keine kommentierenden langen Sendungen mehr über Musik gebe, nachdem wir gerade eine 26-teilige Reihe über Verdi gestartet hatten. Daraus schließe ich: Das Programm wird mehr geliebt als gehört. Es gilt als Beute. „Das war mein Besitz, das war mein Programm, und es hörte sich so an. Und jetzt ist es anders, deshalb höre ich's nicht mehr, aber ich weiß dennoch, warum es schlecht ist.“ Das ist eine Haltung, die in dieser Stadt offensichtlich gut eingeübt ist.

Wird Ihnen nicht bei dem Gedanken bange, Sie könnten möglicherweise die wenigen verbliebenen Stammhörer verprellen, ohne sicher sein zu können, neue zu finden? Dass Sie auf einen Hörertypus setzen, den es vielleicht gar nicht gibt?

Selbstverständlich. Im Norden gibt es den Satz: Nimm dir nichts vor, dann schlägt dir nichts fehl. Angst ist ein wunderbarer Ratgeber, dann wird man nie etwas verändern. Man betrachtet die Akzeptanzkurve des Kulturradios in aller Ruhe, bis sie der Gehirntodkurve gleicht - 0,0 - und sagt danach: Schade, es hat nicht geklappt. Solange man etwas ändert, hat man auch die Chance, Fehler zu machen.

Sind möglicherweise die Rezepte des Formatradios gerade für das Kulturradio untauglich?

Es sind nicht die Rezepte des Formatradios. Ich sagte bereits, warum mir die Kategorisierungen „Einschaltradio“ und „Tagesbegleitprogramm“ untauglich erscheinen. Es gibt keine Rezepte, aber es gibt bei allen Radioprogrammen dieser Welt so etwas wie Moden. Und ich habe viel Verständnis dafür, dass alle Kolleginnen und Kollegen in der ARD, die Kulturprogramme anbieten, über ihre Konzepte nachgedacht haben. Unser Programm ist das dritte, das sich nun gravierend ändert. Die Kulturprogramme von MDR und WDR sind uns gefolgt.

(...)

Die Redaktionsversammlung des WDR hat sich kürzlich gegen eine „Verflachung und Banalisierung“ des ARD-TV-Programms zu Wort gemeldet. Sie forderte die ARD auf, bei wichtigen Themen wieder „um die Meinungsführerschaft in der Gesamtgesellschaft zu ringen“. Halten Sie solche Forderungen für berechtigt?

Die ARD ist ein lebendiger Programmkosmos, und die ganz unterschiedlichen Diskussionen auf den verschiedenen Ebenen zeigen, dass wir unsere Programmaufgabe ernst nehmen. Der nach wie vor gültige Auftrag des öffentlich-rechtlichen Rundfunks verlangt, dass wir bei den wichtigen Themen das Forum bilden für alle relevanten Informationen und Meinungen. Allerdings vermag ich nicht zu erkennen, wer in unserer pluralen Gesamtgesellschaft die Meinungsführerschaft hat. Ich käme nicht auf die Idee, ein solches Ziel zu verfolgen.

Der Intendant des DeutschlandRadios Ernst Elitz hat in der „Zeit“ einen öffentlich-rechtlichen Qualitätskodex gefordert. Demnach sollte die Erhöhung der Rundfunkgebühren an bestimmte Indikatoren wie die Zahl der Erstausstrahlungen, die Eigenproduktionsquote und die Genrevielfalt gebunden sein. Was halten Sie von diesem Vorschlag?

Der Artikel liest sich gut und fällt doch unter das Black-Rider-Verdikt: „Easy said und schwer getan.“ Selbstverständlich kann man Eigenproduktionen und Erstausstrahlungen gewichten. Aber man wird keine validen Kriterien für Qualitätsmessung finden.

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In der Überzeugung, dass gerade eine öffentlich-rechtliche Rundfunkanstalt die „offene Debatte braucht wie die Luft zum Atmen“, hatte sich der erfahrene Medienjournalist Günter Herkel vor allem im Fachdienst „epd Medien“ mehrfach kritisch über das neue Kulturradio geäußert.
«M» Menschen - Machen - Medien 11/2004, ver.di-Zeitschrift, 27. Oktober 2004

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„Wir (haben) die Konsequenz gezogen, über den Tag verteilt sehr viele interessante Themen zu platzieren. Und dies keineswegs in Häppchen, sondern die Beiträge sind in sich konsistent, machen Lust auf mehr.“
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epd medien Nr. 12-13, 21. Februar 2004 - Von Günter Herkel