Das GANZE Werk - Presseschau

neue musikzeitung, Nr. 10/04, Seite 14

nmz-Schwerpunktthema „Rundfunk im Wandel“

Das Wahre ist das Ganze, nur weiß das der NDR noch nicht

Die Initiative „Das Ganze Werk“ hält eine Versammlung in Hannover ab

nmz, Seite 14 und 15, im Original (Pdf)

Reportage von Andreas Kolb

„19.30 Uhr in der Neustädter Hof- und Stadtkirche St. Johannis, Hannover, Rote Reihe 8.“ Dies steht auf meiner Einladung zur Veranstaltung der Initiative „Das Ganze Werk“, zu der ich als nmz-Redakteur und Medienpartner eingeladen bin. Mir schießt der Vers eines Volksliedes durch den Kopf: „In Hannover an der Leine, Rote Reihe Nummer acht, wohnt der Massenmörder Haarmann, der die Leute umgebracht.“ Eigentlich auf den Spuren des neuen NDR Kulturprogramms ergeben meine Recherchen ganz nebenbei, dass Fritz Haarmann sein Unwesen in der Nummer vier trieb. Was sich aber ganz offensichtlich nicht auf „umgebracht“ reimte. Die Initiative „Das Ganze Werk“ hat zwar nichts Gewalttätiges im Sinn, dennoch treibt sie seit ihrer Gründung Mitte Juni eine Politik der Nadelstiche. Das Opfer: Der Norddeutsche Rundfunk, genauer NDR Kultur.

Der Grund: Die Kulturwelle des Norddeutschen Rundfunks strahlt seit dem 1. Januar 2004 ein reformiertes Programm aus. Das ist zunächst nichts Besonderes, Reformen der Kulturwellen kennt man aus allen ARD-Anstalten. Einziger messbarer Erfolg sind Erhöhungen der Zuhörerzahlen zwischen 0,1 und 0,6 Prozent im bundesweiten Vergleich. Beim MDR gibt es sogar einen Rückgang um 0,4 Prozent seit MDR Kultur als MDR Figaro an den Start ging. Hier im Norden aber haben die Hörer, die nicht zufrieden sind mit dem Angebot „ihres“ öffentlich-rechtlichen Senders, nicht nur mit der Aus-Taste abgestimmt, sondern sich zu einer Initiative zusammengefunden.

Man wehrt sich dagegen, dass nach der Programmreform von Kompositionen meist nur ein Satz gespielt wird. Oder nur Highlights - Betonung liegt hier auf „light“ - wie etwa der 1. Satz des 3. Brandenburgischen Konzerts. Die Hauptforderung der Hörerinitiative lautet: NDR Kultur solle täglich zwischen 6 und 19 Uhr „mindestens vier Stunden lang Musiksendungen bringen“ und „die Kompositionen so weit wie möglich vollständig erklingen lassen“.

Der Initiator von „Das Ganze Werk“ ist persönlich anwesend: Theodor Clostermann, im bürgerlichen Beruf Lehrer, ehrenamtlich Präsident der Hamburger Telemann-Gesellschaft und privat leidenschaftlicher Konzerthörer und Sammler von Mitschnitten. Ich treffe ihn bei den Vorbereitungen für seinen Vortrag an. Der Beamer zeigt seitenlang Musiklisten von NDR Kultur in kleiner Schrift.

Meine Befürchtungen zu einer langweiligen Informationsveranstaltung gekommen zu sein, werden sich später nicht bewahrheiten, dafür sorgen die anwesenden Zuhörer und Gäste, etwa 40 an der Zahl. Bevor es losgeht, wechseln wir ein paar Worte über den Internetauftritt von „das ganze Werk“: „Inzwischen klicken täglich etwa 130 Besucher auf die Homepage“, kann ich Theodor Clostermann berichten. Damit kann man zufrieden sein, schließlich steht die Seite erst seit Anfang August im Netz. Dass es die Seite gibt, ist der Medienpartnerschaft zwischen nmz und „Das Ganze Werk“ zu verdanken. Nachdem sich Clostermann direkt an den Herausgeber der nmz, Theo Geißler, gewandt hatte, ergriff dieser die Initiative und stellte dem „Ganzen Werk“ kostenfrei Serverplatz zur Verfügung. nmz-Webmaster Martin Hufner entwarf ein Grundlayout, das Theodor Clostermann betreut und aktualisiert.

Zurück in den Nebenraum der Johanniskirche: Nachdem Clostermann eine kleine Chronologie seiner Aktivitäten vorgetragen hat, beginnt eine lebhafte Diskussion. Der Schriftsteller und ehemalige NDR-Redakteur Eike Christian Hirsch sagt, er könne als ehemaliger NDR-Mitarbeiter nichts sagen, denn er wolle kein Lafontaine des NDR werden - und sagt damit viel. Beinahe alle der anwesenden Hörer zählen zur Altersgruppe der über 50-Jährigen - im neuen Programm von NDR-Kultur fühlt sich von ihnen keiner mehr repräsentiert und außerdem vom seichten Unterhaltungston unterfordert.

Gegen Ende gibt sich Michael Plöger von der NDR Programmdirektion Hörfunk zu erkennen und stellt seine Sicht der Dinge dar. Die Einladung an „Das Ganze Werk“ zu einer Diskussionsrunde in der Sendung „Im Gespräch“ (jeden Samstag 18.05 bis 18.30 Uhr) über das Programm von NDR Kultur bleibe weiter bestehen, betont er, allerdings nur zu den üblichen Redaktionsbedingungen,
Eine Diskussionsrunde
über das neue Programm
in der Sendung
„Im Gespräch“?
das heißt keine Liveübertragung und nur mit einem einzigen Vertreter der Initiative. Mit auf dem Podium wären die Wellenchefin und Leiterin von NDR Kultur, Barbara Mirow, sowie der frühere Chef der Hamburger Hochschule für Musik und darstellende Kunst, Hermann Rauhe. Moderator wäre der Kulturchef von NDR Fernsehen, Thomas Schreiber. Noch zögert Clostermann, zu diesen Bedingungen die Debatte aufzunehmen, er befürchtet, an die Wand gefahren zu werden. Ein solidarischer Gastbeitrag kommt an diesem Abend von Regina Dietzold von der Bremer Hörerinitiative „Hörsturz“: Sie berichtet vom Kampf gegen den ratenweisen Abbau von Radio Bremen seit der Reform von 2001.

Auch nach über zwei Stunden herrscht noch Protest- und Aufbruchstimmung im Saal: Bereits für den Oktober sei die nächste Aktion geplant, erläutert Clostermann. Dann soll es bedruckte Postkarten geben, die an den NDR verschickt werden können und auf denen die zentrale Forderung von „Das Ganze Werk“ zu lesen ist: Mindestens vier Stunden am Tag vollständige Kompositionen.

WWW. dasganzewerk.de

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