Das GANZE Werk - Presseschau

neue musikzeitung, Nr. 05/05

Die Zerstückelung musikalischer Werke in Rundfunkprogrammen,
die Fokussierung auf schmuseweiche Klassikschätze in Sendern, die sich mit dieser Verdummungsstrategie ihren Börsengang verdienen,
die Anmoderation auf Idiotenniveau, aber mit dem "think positive"-Klang der neuen, fröhlichen Generation...

Mit dem Deutschen Musikeditionspreis - Best Edition zeichnet der Deutsche Musikverleger-Verband e.V. (DMV) jedes Jahr Notenausgaben und Musikbücher von herausragender Qualität aus. Der Verband will damit in Zeiten der Nivellierung kultureller Leistungen und des Überhandnehmens von billigen Vervielfältigungen die besonderen editorischen Leistungen seiner Mitgliedsverlage hervorheben. Laudator bei der Preisverleihung auf der Frankfurter Musikmesse 2005 war der Komponist und Präsident des Deutschen Komponistenverbandes, Manfred Trojahn. Lesen Sie seine bemerkenswerte Rede über das Verhältnis zwischen Verleger und Komponist in nahezu voller Länge.

Viel Raum für die Kunst ist nicht geblieben

Komponisten und Verleger vor ihrer Abschaffung

Von Manfred Trojahn


An die Verleger:
Manfred Trojahn bei der
Best Edition-Preisverleihung
des Deutschen
Musikverlegerverbandes.
Foto: Markus Mungay
Es ist die wirtschaftliche und finanzielle Situation unserer Gesellschaft, die ihre Auswirkungen auf das Verhältnis Komponist und Verleger hat; und diese Auswirkungen sind nicht nur wesentlicher, sondern auch wesentlich weniger heiter als der letzten Endes bedeutungslose Zank um zu spät gelieferte Partituren oder schlecht geheftetes Material, die den Alltag zwischen Komponist und Verleger bestimmen.

Beide, Komponist und Verleger, sehen sich einer Gesellschaft gegenüber, die in wachsendem Maße die Arbeit beider Berufsgruppen in Frage stellt - oder besser, sie nicht einmal mehr in Frage stellt, sondern dabei ist, an deren Abschaffung zu arbeiten.

Bevor ich diese These versuchen will zu erläutern, erlauben Sie mir, darauf hinzuweisen, dass ich aus der Perspektive eines erklärten E-Komponisten argumentiere und auch nur das Verlegen von E-Musik in meine Beobachtungen einbeziehe. Ich biete Ihnen also kein Bild der Berufsgruppe "Komponisten" allgemein, die ich als Präsident des DKV zu vertreten habe, sondern fokussiere mich auf die Situation der E-Musik, einen Bereich der Hochkultur, dem der grauenhafte Ruch des Elitären anhaftet.

Zunächst unmerklich, inzwischen aber mit einer zynischen Offenheit, wird an der Zerstörung der Strukturen unserer kulturellen Institutionen gearbeitet. War zunächst eine oder eine zweite Theaterschließung der Grund für heftige Proteste derjenigen, die im kulturellen Bereich sich zu Hause fühlen, so ist derzeit kaum mit Protestschreiben und Krisenveranstaltungen hinterher zu kommen, an allen Seiten, an allen Enden scheint sich der Eindruck Raum zu schaffen, dass Kunst und Kultur in Zeiten angeblich knapper Kassen, mit heftigen finanziellen Einschnitten der öffentlichen Mittel zu stutzen sind, da das öffentliche Interesse an Theater und Konzerten ohnehin nur ein geringes wäre. Kunst und Kultur - es wird deutlich - sehe ich hier zugespitzt auf den für Komponisten und Verleger interessanten Bereich, den der Konzerte und Musiktheater, die das garantieren, was heute mit dem Wort "Grundversorgung" beschrieben wird.

Hinzu muss der Bereich des Rundfunks kommen, vor allem, weil die Neue Musik ohne den Rundfunk nahezu nicht vorstellbar wäre. Seit den 50er-Jahren hat sich die Neue Musik vornehmlich in und mit dem Rundfunk entwickelt und ist zuweilen ausschließlich durch den Rundfunk verbreitet worden.

Wenn also heute von Rundfunkintendanten in extremer Weise die Neue Musik in Frage gestellt wird, die Sendeplätze gestrichen werden, wenn man plötzlich von der Auffassung hört, der Rundfunk habe gar nicht die Aufgabe, sich mit der Entwicklung Neuer Musik als Veranstalter auseinander zu setzen, man sei lediglich gehalten, davon zu berichten, dann müsste das Eingeständnis folgen, die Rundfunkanstalten hätten jahrzehntelang ihre Mittel zu falschen Zwecken aufgewendet und somit große Summen öffentlicher Gelder vergeudet. Soweit möchte vermutlich kein Intendant gehen, und so wird deutlich, dass man hier Zeitströmungen bedient, die noch vor wenigen Jahren, als "intellektuelle Kultur" zu wesentlichen Merkmalen derer zählte, die mit der Leitung großer Institutionen betraut wurden, heftig bekämpft worden wären. Heute werden andere Eignungsprofile bevorzugt und finden wir in wachsendem Maße Personen in den Institutionen, denen es an Kompetenz für "inhaltliche" Gestaltung gebricht.

In Rundfunk- und Fernsehprogrammen lässt sich der Nachweis für diese These leicht führen, bei Theatern und Orchestern ist es weniger einfach, weil die Beeinflussung weniger klar zu Tage liegt. Es scheint mir hier eher die Funktion der berühmten Schere im Kopf in Kraft zu treten, durch die die Programmgestaltung immer abgesicherter, die Stückauswahl immer eindimensionaler und die angestrebten Profile immer publikumsfreundlicher werden. Die mangelnde Kompetenz in Fragen der Kultur liegt hier eher bei der zuteilenden Politik. Das bombensichere Modell: gestern Manager eines Fußballvereins und heute Wirtschaftsminister, wird ja auch in Ländern und Gemeinden gerne aufgegriffen, und führt dann zu den schwierigen Aufgaben einer Theaterintendanz, die sich und ihr Programm einem Kulturdezernenten vermitteln soll, der einen Theaterbesuch ohnehin kaum als wesentlichen Aspekt des Lebens begreifen kann.

Der Mangel an öffentlichen Mitteln, der zu Einschränkungen im kulturellen Bereich führt, die die Funktion der Institutionen durchaus gefährden, scheint mir weniger von wirklichem Geldmangel herzurühren - sonst würden ja kaum in Zeiten von Theaterschließungen neue Sportstadien entstehen oder teure Programme verwirklicht werden, die zum begehrten Titel einer "Kulturhauptstadt" führen sollen, vielmehr verdeutlicht sich eine Veränderung im gesellschaftlichen Wertegefüge. War es noch vor wenigen Jahren gesellschaftlich unmöglich, sich als jemand entlarven zu lassen, der der Kunst und Kultur gleichgültig gegenüber steht, ist es heute schon beinahe zum guten Ton gehörig, die Hochkultur zu problematisieren und sich den Beifall derer zu sichern, denen der Zugang dazu durch ein geringes Bildungsniveau verwehrt ist. Der Beifall, den heute eine Theater- oder Orchesterauflösung erhält, wird zwar noch übertönt vom Protest der Interessierten, aber die Sicherheit, mit der die zerstörende Seite agiert, zeigt, dass wir es mit einer Koalition zu tun bekommen, gegen die in guter alter demokratischer Manier, mit Mehrheiten nämlich, nicht anzustimmen ist. Die Mehrheit hat die andere Seite!

Selbstverständlich waren Kunst und Kultur nie mehrheitsfähig, es gab allerdings eine gesellschaftliche Ethik, die es verboten hätte, das auch nur zu denken, was heute umgesetzt wird.

Pragmatische Ethik

Heutige Ethik ist geprägt von nicht sonderlich kompetenten Überlegungen, deren Pragmatismus uns ihr Herkommen aus der Wirtschaft schnell verrät. Institutionen sind effizient zu führen, sollten sich möglichst selbst tragen oder besser noch Geld verdienen. In Amerika ginge das ja auch. Nach einer Periode heftigster Kapitalismusverdammung, in deren Folge staatlicherseits beinahe alles subventioniert wurde, was in der Lage war, seinen Anspruch vorzutragen, befinden wir uns jetzt an der anderen Seite eines Pendelanschlages und es scheint so, als sei die Zustimmung in der Bevölkerung zur Durchsetzung jeder gesellschaftlichen Verästelung mit den Ideen eines globalisierten Neokapitalismus, wesentlich größer als sie je in den Zeiten sozialistischer Tendenzen zu deren Zielen gewesen ist.

Die Neue Musik ist in allen ihren Formen mit dem Vorwurf konfrontiert worden, unverständlich zu sein, sie hat dazu genügend Anlass gegeben und man hat, mehr oder weniger intern, seit den 70er-Jahren darüber manche Debatte geführt. Keinesfalls dürfen diese Streitereien verwechselt werden mit dem, dem sich die Kunst heute gegenüber sieht. Hier steht nicht mehr ein mehr oder weniger avanciertes künstlerisches Experimentieren in der Diskussion, vielmehr wird jeder geistige Anspruch problematisiert und mit der Kritik an äußeren Formen, mit dem Hinweis auf Schwellenangst und Bekleidungszwang, wird auf Inhalte gezielt, deren Komplexität sich einem gesellschaftlich gewünschten Konsumismus widersetzt.

Die Zerstückelung musikalischer Werke in Rundfunkprogrammen, die Fokussierung auf schmuseweiche Klassikschätze in Sendern, die sich mit dieser Verdummungsstrategie ihren Börsengang verdienen, die Anmoderation auf Idiotenniveau, aber mit dem "think positive"-Klang der neuen, fröhlichen Generation; aber auch die stromlinienförmige Konzertführerwissenschaftlichkeit, mit der sich wohl bekannte Musikkritiker und ernst zu nehmende Musikwissenschaftler zuweilen ihr Zubrot verdienen - all dieses ein Zeichen dafür, dass die Mechanismen der Zerstörung und Verflachung nicht nur von außen an unseren Bereich herangetragen werden, vielmehr ist - wie Wolfgang Rihm es richtig benannt hat - der "Feind" längst innerhalb der Institutionen angekommen.

Autorschaft in der Diskussion

Es nimmt nicht Wunder, dass in einer soziokulturellen Atmosphäre, wie ich sie, zugegeben sehr unzureichend, versucht habe zu skizzieren, auch die Autorenschaft in die Diskussion gekommen ist. Schneller Verbrauch und langfristige Rechte-Sicherungen stehen sich ein wenig im Wege, und oftmals scheint der Verwerter oder Produzent doch wesentlich besser zu wissen, in welcher Form ein Werk zu Geld zu machen ist und da ist ein Autor schon etwas Störendes. Natürlich reicht diese letzte Bemerkung ein wenig über meine Kompetenzen als E-Komponist heraus, wir müssen nun einmal mit der Tatsache leben, dass die Musik, die sich Neue Musik nennt, nicht einmal von höchstmotivierten Verwertern so richtig zu Geld zu machen ist. Und von nichts anderem als E-Musik wollte ich ja reden! Damit wären wir nun wieder angekommen bei unserer Frage nach dem Verhältnis von Verleger und Komponist.

In grauer Vorzeit, so habe ich gelesen, hatten Verleger neben der Verpflichtung ein Notenmaterial zu liefern, die Aufgabe, die komponierte Musik in möglichst wirkungsvoller Weise im Musikleben zu platzieren. Aus dem Briefwechsel zwischen Verdi und seinem Verleger Ricordi lässt sich entnehmen, dass der Verleger beeindruckende Möglichkeiten einzusetzen hatte, wenn es darum ging, die Stücke möglichst geschickt im Spielplan der Scala in Mailand zu positionieren. In den 50er- und 60er-Jahren des vergangenen Jahrhunderts stand besonders ein Verlag im Verdacht, seine Autoren in den Zentren der Neuen Musik gut platzieren zu können. Zehn Jahre später wurde gerade diese Möglichkeit dann schon sehr kritisch beurteilt und heute, so muss man leider sagen, scheint es so zu sein, dass die Verlage jede Einflussnahme auf die Programme für zeitgenössische Musik eingebüßt haben.

Ein Komponist wird von seinem Verlag vertreten - die Frage mag sich aber stellen, was ein Musikverlag letztlich noch auszurichten vermag für seine Autoren?!

Nachdem der Handel kaum noch eine Auswahl neu erscheinender Stücke in die Regale stellt, eine sorgfältige Edition daher zum Luxus zählt, den sich ein Verlag für sein Renommee leistet, aber aus anderen Mitteln als dem Verkaufserlös finanzieren muss, reduziert sich die Aufgabe des Verlages immer mehr auf das Verleihgeschäft und die Herstellung und Lagerung des dazu nötigen Materials. Natürlich sieht man es als Komponist mit Skepsis, wenn renommierte Verlage personelle Einschnitte gerade dort vornehmen, wo die Voraussetzungen für diesen Restbereich der Tätigkeit geschaffen werden.

Verlage ohne ein funktionierendes Lektorat, die soweit gehen, vom Komponisten das kopierfähige elektronische Medium einzufordern, von dem sie nun ihrerseits, möglichst in Fremdvergabe, Kopien ziehen lassen, scheinen darauf zu rechnen, dass es für den Komponisten wirklich von großem Interesse ist, auf seinen Partituren ein Logo prangen zu sehen, das seinen guten Ruf längst vergangenen Leistungen verdankt. Die Machtlosigkeit der Verlage zeigt sich besonders darin, dass sie es nicht vermögen, Komponisten aufzubauen, wie sie es noch in der Generation der heute 70- bis 80-Jährigen vermocht haben.

Raum für die Kunst

Das ist nicht etwa auf das Unvermögen der Verleger zurückzuführen, vielmehr sind sie - genau wie die Komponisten - in den vorhin beschriebenen gesellschaftlichen Strudel geraten, der inhaltliche Ziele heute dem Zwang, auf jede mögliche Art Geld zu verdienen, völlig unterordnet.

Anders als die meisten Autoren aber, die trotz allem unverdrossen weiter produzieren, ist das Verlagswesen, man muss sagen großräumig, unter eigenen Druck geraten und hat sich Konzernen ausgeliefert, die die Handlungsspielräume für Neue Musik auf das wirtschaftlich Vertretbare gestutzt haben. Viel Raum für die Kunst ist dabei nicht geblieben. Wann aber wäre Kunst wirtschaftlich gewesen?! Schweizer gelten im Allgemeinen als zurückhaltend. Einer allerdings ist ein bisschen sehr auffällig in letzter Zeit, er lebt unter beklagenswerten sozialen Umständen als Chef der Deutschen Bank in dieser freundlichen Stadt. Josef Ackermann wird der schöne Satz nachgesagt: "Wer nicht versteht, wie die Welt funktioniert, wird nie erfolgreich sein."

Natürlich ist dieser Satz sehr typisch für die augenblickliche gesellschaftliche Situation, in der Argumente, die mit Ellenbogen vorgetragen werden, eine Menge Aufsehen erregen. Jeder, der seinen Gewinn nicht auf Konten verbuchen kann, jeder, dessen Erfolg sich nicht in Aktienpaketen materialisiert, kann, vom eingeschränkten Verstand des Herrn Ackermann her betrachtet, gar nicht von Interesse sein. Seit den 80er-Jahren haben wir eine Menge derartiger Existenzen kommen und gehen sehen, gegangen sind sie zumeist mit einer gigantischen Abfindung, aber alles, was von ihnen geblieben ist, ist unsere Erinnerung an diese Summen. Erfolg wird auf Geldwert reduziert.

"Il faut résister"

Es ist bestürzend zu sehen, wie viel Anmaßung, Demagogie und freche Dummdreistigkeit sich in so einem kleinen unauffälligen Sätzchen verbirgt. Wie hier für Naturgesetz genommen wird, was doch letztlich menschliche Entscheidung für ein ethisches Konzept ist. "Wie die Welt funktioniert, die ich mir nach meiner Wertvorstellung bilde", müsste es also heißen, und "Ihr alle, die Ihr nicht so denkt wie ich, werdet nicht erfolgreich sein." Kunst hat ihren Erfolg nicht in der Richtung dieser Philosophie des Eigennutzes zu suchen. Kunst ist der Gegenentwurf dazu und sie ist es heute umso entschiedener als versucht wird, ihr gesellschaftlich die Richtung vorzugeben.

Strawinskys Satz "Il faut résister" - "es kommt darauf an, dabei zu bleiben" -, einst bezogen auf die eigene kompositorische Existenz, muss heute breiter verstanden werden. Es kommt darauf an, durchzuhalten, nicht nur für die Autoren, auch für die Verleger - vor allem für die, die noch nicht in den Schoß eines Mutterkonzerns geflüchtet sind. Das Zusammenspiel von Autor und Verleger wird nie frei werden von der Prägung durch unterschiedliche Interessen. Beide Interessen lassen sich allerdings nur erfolgreich durchsetzen, wenn der Blick auf das künstlerische "Produkt" gerichtet bleibt.

Die Kunst allein ist es, die Autoren und Verleger zusammenhalten kann. Die Kunst und ein sentimentales Festhalten aneinander, aus dem Wissen heraus, dass gemeinsam seit Jahrzehnten viel erreicht worden ist. Ich denke dabei besonders an die editorische Arbeit, die uns die Werke vergangener Zeiten heute auf wunderbare Weise zugänglich macht. In nicht allzu langer Zeit werden auch unsere Tage vergangene Zeiten sein und wir sollten nun fragen, was dann für die, die uns folgen, von unseren Leistungen noch Interesse finden wird. Wenn es genau so wird, wie mit den Zeiten vor uns, die uns vornehmlich durch ihre künstlerischen Erzeugnisse präsent sind, haben wir eine Menge Gründe, unseren Arbeitseinsatz zu verdoppeln und mit Strawinsky zu sagen: "Il faut résister".