Das GANZE Werk - Presseschau

Frankfurter Allgemeine Zeitung, 9. Januar 2006

Mit Goebbels: Das Kulturradio schafft sich selbst ab

Populär?

Komponisten wie Helmut Lachenmann, Dieter Schnebel, Hans Zender, Manfred Trojahn und Jörg Widmann fordern die Wiedereinstellung Demmlers

Von Eleonore Büning

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Morgens um sieben ist die Rundfunkwelt längst nicht mehr in Ordnung. Seit zwei Jahren teilt eine Schlafzimmerstimme den Berlinern zum Frühstück ungefähr im Zehnminutentakt fromme Lügen aus. Erst eine Prise des von Sebastian Bach geborgten Gute-Laune-Jingles. Danach das Eigenlob, wahlweise: „Kulturradio gehört zum Leben!“ oder „Kulturradio, hier spielt die Musik!“ Wer so oft lügt, dem glaubt man nicht. Immer weniger Hörer hören zu.

Seit der letzten Programmreform der Kulturwelle des Rundfunks Berlin-Brandenburg (RBB) sind die Quoten weiter gesunken, von 1,4 auf ein Prozent. Ein Euphemismus auch, daß hier überhaupt noch „Musik“ gespielt würde. Von ihrem Kontext getrennt, um ihren Sinn amputiert, schwimmen Einzelsätze aus barocken Suiten oder romantischen Sonatensätzen vorüber. Der erste Satz aus Beethovens erster Symphonie wird falsch geblendet.Der Gastkritiker spricht die Frühkritik mit einem S-Fehler. Er teilt über eine Uraufführung des Vorabends mit, das Stück sei mal „ein bißchen schneller, mal ein bißchen langsamer“ gelaufen, was die wahnsinnig forsche, unheimlich frische und völlig ahnungslose Moderatorin locker nimmt, denn es kann vorkommen, daß sie auch ein Orchesterstück von Bach mit einer Violinsonate von Mozart verwechselt, und, hoppla, niemand merkt's. Ansagen fallen offenbar aus Prinzip weg, Absagen sind kurz, meist unvollständig, manchmal falsch und immer irgendwie egal bei dieser Morgenstrecke einer Kulturwelle, die, wie Programmchef Wilhelm Matejka gerne wiederholt, eigentlich nur „im besten Sinne populär“ sein will.

Diesen Wunsch teilen andere Entscheidungsträger der öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten auch. Die Kulturwellen des Hessischen Rundfunks, des Norddeutschen Rundfunks und des Mitteldeutschen Rundfunks haben sich ebenfalls schon seit längerem dafür entschieden, ihre Hörer dort „abzuholen“, wo sie angeblich sind: auf niedrigstem Niveau. Der beim RBB amtierende Musikchef Christian Detig, der maßgeblich am letzten Programm-Relaunch beteiligt gewesen war, hat diese allgemein modische Linie am 31. Mai vorigen Jahres morgens um 7 Uhr 45 noch einmal auf den Punkt gebracht: Ein Radioprogramm müsse so gestaltet werden, daß es auch „dem anspruchsloseren Geschmack gefällig und verständlich“ erscheint. Angestrebt seien „Entspannung und Unterhaltung“, „demgegenüber fallen die wenigen, die nur von Kant und Hegel ernährt werden wollen, kaum ins Gewicht“. Dies sei, so erläuterte Detig, ein Zitat von Joseph Goebbels und „der Mann immer noch für Überraschungen gut“. Detig weiter: „Ich behaupte mal, das könnte so ohne große Abstriche jeder ARD-Intendant unterschreiben, ich übrigens auch, tue ich aber nicht.“

Martin Demmler, Redakteur für Neue Musik beim Sender seit siebzehn Jahren, fühlte sich von dieser Äußerung seines Vorgesetzten unmittelbar bedroht. „Ich habe sofort Kant und Hegel ersetzt durch Lachenmann und Schönberg und wußte, das ist kein Witz.“ Man kann diese Reaktion begreifen, sogar wenn man die Vorgeschichte nicht en detail kennt. Tatsächlich hatte Musikchef Detig den Abbau der Neuen Musik am RBB weiter vorangetrieben: Drei von fünf Sendestunden wurden gestrichen, der Etat gekürzt, die Konzertreihe „Musik der Gegenwart“ halbiert. Demmler reagierte kopflos: Er verschickte den Moderationswortlaut an diverse ARD-Intendanten und unterschrieb mit falschem Namen. Auch die Verantwortlichen des RBB reagierten hysterisch. Sie kündigten Demmler fristlos wegen Unterschriftenfälschung. Personalrat und Redaktionsausschuß sprachen sich gegen die Kündigung aus: Eine Abmahnung wäre, so heißt es auf oberen Rundfunketagen auch anderswo, wohl eher der normale Weg gewesen. Detig übrigens moderiert weiter.

Am Mittwoch dieser Woche beginnt nun vor dem Arbeitsgericht in Berlin der Prozeß Demmler gegen den RBB, Ausgang ungewiß. Die Neue Musik beim RBB ist unterdessen verwaist, Praktikanten tun das Nötigste, der Redakteursposten bleibt vakant. „Mit Bestürzung“ registrierten dies Komponisten wie Helmut Lachenmann, Dieter Schnebel, Hans Zender, Manfred Trojahn und Jörg Widmann in einem von Aribert Reimann initiierten offenen Brief. Sie fordern die Wiedereinstellung Demmlers und befürchten, man werde den Fall zum Anlaß nehmen, die Stelle nicht wieder neu zu besetzen. Matejka möchte sich dazu nicht äußern, allenfalls in dehnbarster Weise: „Wir brauchen die Neue Musik“, beteuert der Programmchef. Wo, wann, mit wem und an welchem Sendeplatz, ist damit nicht gesagt.

Es wäre aber heute schon ein kleines Wunder nötig, ein aus Courage, Sachverstand und Geist entspringendes Mirakel, würde der RBB seinen Redakteur, den kompetenten und langbewährten, wieder einstellen. Dieser Fall ist - nicht zuletzt, weil ein Goebbels-Zitat mit im Spiel war - ganz besonders dämlich gelaufen. Zugleich zeigt er exemplarisch, wie weit der Realitätsverlust und der freudige Selbstabschaffungswahn in den Kulturwellen der öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten bereits gediehen sind. Das Betriebsklima scheint vergiftet. Draußen laufen die Hörer weg. Wo aber der Kulturauftrag so konsequent an den Nagel gehängt wird, da manövriert sich der öffentlich-rechtliche Rundfunk ganz von selbst in die Bedeutungslosigkeit.

Lesen Sie außerdem zum Arbeitsgerichtsprozess:

Heil dem Dudelfunk
Zitat einer Hörerzuschrift: „Ziehen Sie den Umkehrschluss aus dem Hörerrückgang: Es gibt sehr viele kultivierte Hörer und Verbündete.“
DIE ZEIT, 16. Januar 2006

Kündigung unwirksam
Musik-Redakteur siegt bei Gericht über RBB
Berliner Morgenpost, 13. Januar 2006

Unterhaltung mit Goebbels
RBB-Redakteur klagte erfolgreich gegen seine Kündigung
Auch die Zukunft von Kulturwellen steht auf dem Spiel, deren Weg in die Bedeutungslosigkeit auch durch zunehmende Popularisierung kaum gebremst wird
Berliner Zeitung, 12. Januar 2006

Ohrfeige für den RBB vor dem Arbeitsgericht
Fristlose Entlassung eines Kulturradio-Redakteurs war unverhältnismäßig
Märkische Allgemeine, 12. Januar 2006

Kulturradio RBB
Mobbing mit Goebbels
Wer bei seiner Programmgestaltung die Kultur zurückschraubt, setzt auch auf den Jargon des Kommerzradios
Frankfurter Allgemeine Zeitung, 11. Januar 2006

RBB und Redakteur vor Arbeitsgericht
Mittlerweile versammeln sich hinter Martin Demmler Lobbyisten und Komponisten zeitgenössischer Musik sowie sämtliche Kritiker an dem Kulturradio
Der Tagesspiegel, 11. Januar 2006

Bitte anschnallen!
Gegen die fristlose Kündigug Demmlers haben sich jetzt mehr als 30 der bedeutendsten deutschen Komponisten in einem offenen Brief gewandt
Hannoversche Allgemeine Zeitung (HAZ), 11. Januar 2006

Das Kulturradio schafft sich selbst ab
Wo aber der Kulturauftrag so konsequent an den Nagel gehängt wird, da manövriert sich der öffentlich-rechtliche Rundfunk ganz von selbst in die Bedeutungslosigkeit
Frankfurter Allgemeine Zeitung, 9. Januar 2006

Offener Brief von Professor Aribert Reimann
33 Komponisten erklären: Wir, die unterzeichnenden Komponisten, protestieren gegen diese ungerechtfertigte Entlassung eines hervorragenden Anwalts für die Neue Musik und fordern, Martin Demmler in seine Pflichten beim RBB wieder einzusetzen
GEMA Brief 56, Dezember 2005

Lesen Sie die einzelnen Teile des RBB-Dossiers des GANZEN Werks:

Teil 1: Dokumentation - Moderation und Original-Zitat
Teil 2: Sinkende Hörerzahlen treiben schon seltsame Blüten
Zustimmung, Leichtfertigkeit oder Naivität im Umgang mit einem Zitat von Goebbels?
Ein Zitat, das dem systematischen Ausbau der NS-Herrschaft diente, darf nicht für die Kulturradio-Debatte missbraucht werden!
Teil 3: Musikredakteur Demmler alarmiert drei ARD-Intendanten
Karikatur zu Detigs Einfall - Da sitzen alle ARD-Intendanten an einem großen Konferenztisch, unterschreiben das Goebbels-Zitat...
... und RBB-Musikchef Detig moderiert, für Das Erste.
Teil 4: Zweierlei Maßstab des RBB
Riesenhaft hier
Der kritische Musikredakteur wird als „Straftäter“ und „Denunziant“ entlassen
Zwergenhaft da
Schonend wird die Moderation mit dem Goebbels-Zitat als „nicht glücklich“ kritisiert
Teil 5: Offener Brief zum Goebbels-Zitat
an die Intendantin des RBB und an die Intendanten von NDR und WDR:
„Ich möchte Sie bitten, derartiges in der ARD nicht zuzulassen.“
und die Antwort vom WDR.
Teil 6: Antwort der Intendanz des RBB
„Sie wissen, dass es hausintern eine kritische und konstruktive Debatte
über die Moderation von Christian Detig am 30. Mai 2005 gegeben hat“

Teil 7: Kein leichtfertiger Umgang mit dem Goebbels-Zitat zum Rundfunk!
3 Bilder als Mahnung und 3 Texte zum Nachdenken (Goebbels, Pohle, Detig)

„... Aufgabe, die Hörermasse empfangswillig zu machen für die Stunden, in denen der Staatsbürger angesprochen, informiert, beeinflußt werden sollte.“
Teil 8: Linkliste
a. Das Radio als Propaganda-Instrument in der NS-Zeit (weiterführende Literatur)
b. Zeitungsartikel zur Debatte über RBB-Kulturradio
c. Liste programmatischer Erklärungen zu NDR Kultur

Hier - dokumentiert - das vollständige Zitat der Moderation:

RBB-Kulturradio: 30. Mai 2005. 07.09 Uhr.
Moderator: Dr. Christian Detig, Musikchef und Vizewellenchef Kulturradio

Da schlägt das Trommlerherz natürlich höher, Georg Friedrich Händel, La Réjouissance aus der Feuerwerksmusik, gespielt vom Ensemble [xy], neun Minuten nach sieben, sieben Uhr und neun.
Achtung Zitat: »Das Programm des Rundfunks muss so gestaltet werden, dass es den verwöhnteren Geschmack noch interessiert und dem anspruchslosen noch gefällig und verständlich erscheint. Dabei soll besonderer Bedacht auf die Entspannung und Unterhaltung gelegt werden, weil die weitaus überwiegende Mehrzahl aller Rundfunkteilnehmer einen Anspruch darauf hat, in den wenigen Ruhe- und Mußestunden auch wirklich Entspannung und Unterhaltung zu finden. Dem gegenüber fallen die wenigen, die nur von Kant und Hegel ernährt werden wollen, kaum ins Gewicht.« Zitatende.
Und ich behaupte mal, das könnte so ohne große Abstriche jeder ARD-Intendant auch unterschreiben, ich übrigens auch, ich lasse es aber lieber, denn dieses Zitat stammt von - bitte anschnallen! - Joseph Goebbels.
Der Mann ist immer noch für Überraschungen gut und längst wissen wir noch nicht alles. Das Leben von Joseph Goebbels ist jetzt Theater geworden und zwar im Deutschen Theater. Die Frühkritik um sieben Uhr fünfundvierzig.

Und hier das vollständige Goebbels-Zitat:

»Das Programm des Rundfunks muß so gestaltet werden, daß es den verwöhnten Geschmack noch interessiert und dem anspruchslosen noch gefällig und verständlich erscheint. Es soll in einer klugen und psychologisch geschickten Mischung Belehrung, Anregung, Entspannung und Unterhaltung bieten. Dabei soll besonderer Bedacht gerade auf die Entspannung und Unterhaltung gelegt werden, weil die weitgehend überwiegende Mehrzahl aller Rundfunkteilnehmer meistens vom Leben sehr hart und unerbittlich angefaßt wird, in einem nerven- und kräfteverzehrenden Tageskampf steht und Anspruch darauf hat, in den wenigen Ruhe- und Mußestunden auch wirklich Entspannung und Erholung zu finden. Demgegenüber fallen die wenigen, die nur von Kant und Hegel ernährt werden wollen, kaum ins Gewicht.«

Quelle: Joseph Goebbels, Rede zur Eröffnung der Rundfunkausstellung 1936, Abdruck in „Mitteilungen der RRG“, Nr. 501 vom 28. August 1936, Bl. 4.
Zitiert in: Heinz Pohle, Der Rundfunk als Instrument der Politik - Zur Geschichte des deutschen Rundfunks von 1923/38, Hamburg 1955, S. 281 f.