Das GANZE Werk - Presseschau

Frankfurter Rundschau, 27. Februar 2006

Zitat:
Insofern ist Bertram mit Mattscheibe mehr als eine veritable Polemik gelungen, die zugleich eine pointierte Innenansicht der ARD bietet. Wer wissen will, wie sich Selbstverständnis, journalistische Qualität und Praxis im öffentlich-rechtlichen Rundfunk verändert haben, wird hier fündig.

Klare Einblicke

Jürgen Bertrams „Mattscheibe“

Von Rainer Braun

Fast 15 Jahre lang berichtete Jürgen Bertram für die ARD aus Südostasien. Im Rückblick räumt er freimütig ein, dass er dem gebührenfinanzierten Fernsehen viele Einblicken und Erfahrungen zu verdanken hat, die nicht jedem Journalisten vergönnt sind. Das schafft Loyalität, schließt aber eine kritische Revision des ARD-Verbunds nicht aus. Zumal, wenn einer wie der britische Presseoffizier und Gründungs-Intendant des Nordwestdeutschen Rundfunks (NWDR), Hugh Carleton Greene, die Maximen eines unabhängigen Journalismus im Deutschland nach 1945 absteckte. Getreu den Prinzipien der BBC stritt er für eine aufklärerische Publizistik, die vor dem sich formierenden politischen Establishment so wenig Halt machte wie vor den Türen des eigenen Hauses.

In dieser Tradition sieht sich auch der Pensionär Jürgen Bertram, der sich pünktlich zum 50. Geburtstag von NDR und WDR zu Wort gemeldet hat. Mattscheibe hat er seine Streitschrift zur Rettung des Qualitäts-Journalismus überschrieben, die sich vor allem als engagierter Beitrag zur Entwicklung der ARD versteht. Der Untertitel Das Ende der Fernsehkultur ist da durchaus programmatisch zu verstehen: Der Autor ist nicht nur ein profunder Kenner des NDR, dem er bis zur Pensionierung vor fünf Jahren verbunden blieb. Bertram legt zudem besonderen Wert darauf, die Verschiebungen in der Akzentuierung von Themen im Alltagsgeschäft der ARD kenntlich zu machen.

Außer Frage steht dabei, dass Bertrams prononcierte Außensicht sowie die Interviews mit honorigen ARD-Mitarbeitern von Martin Wiebel bis Immo Vogel seine Analyse eher schärften. Als er Deutschland verließ, stand der „Konflikt zwischen Ökonomie und Ökologie“ ganz oben auf der Agenda der Politik-Redaktionen. Bei seiner Rückkehr waren es die Liebschaften von Lady Diana und die Einbrüche des Winters. Vor diesem Hintergrund fällt Bertrams Blick zurück alles andere als nostalgisch aus. Anschaulich zeichnet er nach, wie CDU und SPD schon früh Einfluss auf Strukturen und Personalentscheidungen der Sender nahmen. Die Hinwendung zu rigoroser Quotenfixierung und Infotainment erscheint deshalb nur konsequent. Gleichwohl blendet Bertram nicht aus, dass es noch Hierarchen im Senderverbund gibt, die diese Entwicklungen skeptisch bewerten.

Insofern ist Bertram mit Mattscheibe mehr als eine veritable Polemik gelungen, die zugleich eine pointierte Innenansicht der ARD bietet. Wer wissen will, wie sich Selbstverständnis, journalistische Qualität und Praxis im öffentlich-rechtlichen Rundfunk verändert haben, wird hier fündig.

Jürgen Bertram, „Mattscheibe. Das Ende der Fernsehkultur“. Fischer Verlag, 240 Seiten, 8,95 Euro.

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über sein neues Buch „Mattscheibe - Das Ende der Fernsehkultur“:
„Zuschauer werden entwöhnt“
Innenperspektive: Kritik an den Mechanismen der ARD. Jürgen Bertram fordert von Fernsehschaffenden Seriosität, Verläßlichkeit und Kritikfähigkeit.
Hamburger Abendblatt, 17. Januar 2006