Das GANZE Werk - Presseschau

Zitat: Auf „Große Stimmen“ und „Am Morgen vorgelesen“ berief man sich beim Sender gern, wenn Kritiker die Verflachung nach der letzten Programmreform beklagten. Von diesen beiden Säulen rings um eine tagsüber kompetenzfrei durchpürierte Klassiksoße steht jetzt nur noch eine.

Hannoversche Allgemeine Zeitung (HAZ), 22. März 2006

Und dann war Schluss

Zwölf Jahre und ein jähes Ende: NDR Kultur ließ Jürgen Kestings Sendung „Große Stimmen“ verstummen – einfach so

Von Volker Hagedorn

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„Großes Einver-
nehmen“:
NDR-Kultur-Chefin
Barbara Mirow.
Die Institution verschwand im wahrsten Sinne über Nacht. Um 22 Uhr endete wie immer die Sendung „Große Stimmen“ auf NDR Kultur. Jürgen Kesting hatte diesmal die Mezzosopranistin Vivica Genaux vorgestellt. Und dann war Schluss. Nach 500 Sendungen in zwölf Jahren. Das könnte ein ganz normaler Vorgang sein. Irgendwann hat sich jedes Konzept verbraucht. Dann teilt man das dem Publikum mit, nimmt ein bisschen Abschiedsschmerz in Kauf und macht was Neues. In diesem Fall war es anders. Es gab keinen Hinweis. Die „Großen Stimmen“ verschwanden nach dem 14. Februar einfach so – und sie hatten sich keineswegs verbraucht. Die Sendung war Kult, sie war das One-Man-Opernhaus der norddeutschen Kulturwelle.

Jürgen Kesting ist nicht eine, sondern die deutsche Autorität in Sängerfragen. Der Bruder des Leiters der NDR-Abteilung „Kulturelles Wort“ in Hannover, Hanjo Kesting, ist Verfasser des Standardwerks „Die großen Sänger“, Kritiker, Sammler und eine Galionsfigur des Kulturradios. Auf „Große Stimmen“ und „Am Morgen vorgelesen“ berief man sich beim Sender gern, wenn Kritiker die Verflachung nach der letzten Programmreform beklagten. Von diesen beiden Säulen rings um eine tagsüber kompetenzfrei durchpürierte Klassiksoße steht jetzt nur noch eine.

Das heißt nicht, dass NDR Kultur abends nichts mehr zu bieten hätte. Es gibt Orchesterkonzerte, Hörspiele, Liveübertragungen, Sendungen mit Neuer und Alter Musik und dienstags anstelle der „Großen Stimmen“ neue Formate, unter anderem die „Klassik für Neugierige und Liebhaber“. Gleichwohl bleibt die Frage, warum gerade Kestings Sendung weichen musste.

Wer die Wellenchefin Barbara Mirow nach Gründen für die Absetzung der Sendung fragt, erfährt, dass „programmliche Abwechslung dringend Not tat“. Darüber bestehe auch mit dem Autor „großes Einvernehmen“. Das sieht Jürgen Kesting aber ganz anders. Er hat sogar einen Anwalt eingeschaltet. Nicht, um die „Großen Stimmen“ zu retten, sondern weil Hörerbriefe, die an ihn gerichtet waren, ihn erst auf Nachfrage der Absender erreichten – „geöffnet“, wie Kesting sagt. Briefe von Fans, die zugleich das Niveau beklagten, auf dem sich die Kulturwelle tagsüber bewegt. Sollte das zutreffen – es zeugte von schlechtem Stil ebenso wie das stillschweigende Abservieren eines der profiliertesten NDR-Autoren. Letzteres trifft nicht zuletzt die vielen, die ihm mehr als ein Jahrzehnt lang lauschten. Die jetzt vier Wochen lang rätselten, ob der Mann sich eine Auszeit genommen hat. Ein paar schrieben ihm Briefe. Ein Proteststurm wird wohl nicht ausbrechen. Ihre Erwartungen haben die Hörer schon längst zurückgeschraubt.

Anmerkung und Hintergrundinformation: Hanjo Kesting, der Bruder von Jürgen Kesting und bisheriger Leiter der NDR-Abteilung „Kulturelles Wort“ in Hannover, hat sich am 25. Januar 2006 in den Ruhestand verabschiedet (siehe Artikel unten).

Jürgen Kesting war Gast unserer Podiumsdiskussion am 8. Juni 2006 in Hamburg

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Gehen Sie zu unserer Dokumentation:

Tod auf Raten für die Sendereihen „Große Stimmen“ und „Oper in einer Stunde“
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Sehen Sie sich die Seiten des Übergangs an:

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NDR Kultur: Das Programm für Dienstag, 28. Februar 2006
21:00 Welt der Musik
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In der neuen Senderreihe von NDR Kultur präsentiert Margarete Zander "Klassik für Neugierige und Liebhaber": In den ersten beiden Sendungen (28. Februar und 7. März) geht es um zehn klassische Dauerbrenner. Wie heißen die Musiken, wer sind die Komponisten und was passt in die Klassik-Sammlung?
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