Das GANZE Werk - NDR Kultur in der Satire

DIE TONKUNST, Nr. 11/2004, 1. November 2004

Ein Spot(t)light:
„Sie hören jetzt Franz Schuberts ‚Forellenquintett‘. Es spielt das ‚Trio Fontenay‘.“ Und los geht's! Natürlich nicht mit dem ganzen Quintett, sondern - richtig geraten! - mit dem Finale (es ist Sonnabend-Nachmittag). Da L.EAR abschalten musste, hat er nicht mehr erfahren, ob den Hörern bei der Absage noch verraten wurde, wie ein Trio ein Quintett spielen kann...

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• L. EAR - DER OHRENMENSCH •

An dieser Stelle kommt L.EAR zu Wort.

Illustration: Christian Runkel, Lübeck

Anders als Shakespeares tragischer King Lear, der an seiner Mitwelt verzweifelt, reibt sich Ohrenmensch L.EAR mit satirischen Anfällen an Ereignissen und Zumutungen im Bereich der Tonkunst. Was das L. vorm EAR bedeutet - laughing, leery, listening, lost, lonely, lugubrious, lying oder ...? - mögen die LeserInnen selbst entscheiden.
 

Beim Autofahren durchs herbstliche Norddeutschland überkommt L.EAR jetzt immer Sehnsucht - nach Bayern. Nicht nach Gamsbart, Weißbier, Radi, Jodeln oder Monika Hohlmeier. Nein, Sehnsucht nach dem „klassischen“ Musikprogramm des Bayerischen Rundfunks. L.EAR braucht Urlaub vom Norddeutschen Rundfunk - Urlaub von dem, was der NDR uns von der Musikkultur übrig gelassen hat. Urlaub von den Klassik-Häppchen des Tagesprogramms (hier ein flottes Finalsätzchen, da ein flottes Finalsätzchen und dazwischen schaumiges Modera-Toren-Geplauder). Urlaub von den elektronisch getunten Jingles, die einem nach leisen Satzschlüssen (gelegentlich verirrt sich ja doch mal ein entlaufenes Adagio ins Programm) die Fortefaust in den Magen und dümmliche Oktavparallelen ins Hirn rammen.

Was ist da seit rund zwei Jahren passiert? Ein freundlicher Antwort-Schreiber von NDR Kultur mailt es mit tröstenden Worten, nachdem L.EAR im Hörerbriefkasten der NDR-Website das musikkulturelle Tages-Programm beklagt hat: NDR Kultur sind in den letzten Jahren dramatisch viele Hörer abhanden gekommen (trotz Klassik-Club und Wünsch-dir-was-Sendungen, denkt sich L.EAR). Daraufhin hat man in einer „Musikstudie“ Klassikliebhaber nach ihren „Präferenzen“ gefragt und ein neues Hörerprofil konstruiert. (Fragt sich nur,  w a s  man da  w e n  gefragt hat: „Was hören Sie am liebsten?“ Oder: „Was möchten Sie am liebsten hören?“ Oder: „Was möchten Sie gern kennen lernen?“) Die Konsequenzen, die NDR Kultur zog, lauteten: Die klassische Messlatte liegt zu hoch. Die Musik ist zu schwer. Die Werke sind zu lang - für heutige Hörer. Also dürfen heutige Hörer das, was sie - oder die in der „Musikstudie“ Befragten - ohnehin am liebsten hören, jetzt noch mal hören. Und noch mal. Und noch mal. Alle, die L.EAR zur neuen NDR-Kultur befragt hat (Menschen zwischen 17 und 80), haben die Profilforscher allerdings nicht gefragt. Und so passt das Profil von L.EAR und anderen Norddeutschen mit klassischen Ohren nicht in die neue musikalische Puppenküche des NDR.

Wenn L.EAR und Tochter morgens im Auto zur Arbeit und Schule fahren, haben sie den Eindruck: Das NDR-Studio ist zwischen 7 und halb 8 von Barock-und-Klassik-Terroristen besetzt. Denn unentwegt rieselt hippe schnelle Musik aus dem Lautsprecher - überwiegend Finalsätze von Vivaldi, Bach, Mozart, Clementi und nicht zuletzt vom neuen NDR-Star, dem italienischen Spät- und Gebrauchsklassiker Giuseppe Saverio Mercadante (bei dem L.EAR immer an „Rondo Veneziano“ denken muss). Vor 7 Uhr 30 haben Romantiker Ausgehverbot in Hamburg. Die Demarkationslinie liegt zwischen Beethoven und Schubert. L.EARS Tochter leidet mittlerweile unter akuter morgendlicher Unterromantisierung. Die Slavischen Tänze, die nach 7 Uhr 30 erlaubt sind und von denen einige wenige wieder und wieder abgedudelt werden, helfen da auch nicht mehr. Vom 20. Jahrhundert will L.EAR gar nicht erst reden. Bei der spätnachmittäglichen Rückfahrt geht's ähnlich zu, wenn auch nicht ganz so streng. „Die Geschmäcker sind verschieden“ - das gilt nicht fürs musikalische Morgenprofil von NDR Kultur. Da muss die „Musikfarbe Mercadante“ dominieren. Haben die Trendforscher den Onkeln vom NDR jedenfalls erzählt. Und die haben es geglaubt und gehandelt. Gnadenlos.

Vielleicht meinen die Klassik-Onkel insgeheim aber auch, dass norddeutsche E-Musik-Freunde einfach ein bisschen blöder seien als bayerische oder englische Klassikhörer. Dass sie einen niedrigeren KIQ (Kulturellen Intelligenzquotienten) hätten und sich schlechter konzentrieren könnten. Wie soll man sich sonst erklären, dass Hörern in Bayern und England tagsüber noch ganze Werke zugemutet werden? Dass L.EAR im Sommer in Bayern vormittags in aller Ruhe hören konnte, wie der faszinierende junge Pianist Jonathan Gilad eine ganze (!) dreisätzige (!!!) Beethoven-Sonate spielte. In England erlebte Familie L.EAR voriges Jahr zum Frühstück (!) sogar Musik des 20. Jahrhunderts (!!): Samuel Barber war „Composer of the Week“, und da gab's zwangsläufig nicht nur das (NDR-taugliche) Adagio for Strings, sondern auch Kaliber wie die dreisätzige Klaviersonate. Vielleicht aber halten unsere zukunftsfähigen Nordfunker die Engländer und Bayern auch nur für konservativer und langsamer und glauben, denen stünde die neue deutsche Lightkultur - garantiert brucknerlos und bartókfrei - erst noch ins (Funk-)Haus?

L.EAR könnte auch anders fragen: Was muss man tun, wenn den traditionellen Klassikprogrammen die Hörer ausfallen? Auch noch die gebliebenen Klassikfreunde vergraulen? (Komischerweise ist L.EAR bisher keinem Klassikfreund begegnet, der die neue NDR-Light-, Leit- und Leid-Kultur gut fand.) Sind „Classic light“ und „Classic short“ die einzig richtige und erfolgreiche Konsequenz? L.EAR möchte fast wetten: Das augenblickliche Programmprofil wird den Genossen Abwärtstrend nicht lange stoppen. Schon bauen ehemalige NDR-3-Fans in ihre Autos CD-Player ein („NDR, ade! Dann lieber CD!“). Schon rotten sich - nicht in dieser Satire, sondern in Wirklichkeit! - vergrätzte Klassik-Liebhaber in der Protestinitiative „Das GANZE Werk“ zusammen und fordern Werke statt Häppchen (bald werden sie skandieren: „Wir sind die Hörer!“). Schon spotten norddeutsche Zeitungsfeuilletons über klassische Hamburger Eigentore. Denn was bleibt übrig bei dieser Art von Programm? Klassik zum Melken: NDR Kuh-Tour.

Klar, L.EAR hat leicht spotten und meckern! Was will er überhaupt? Offenbar so Unmögliches wie Qualität + Anschaulichkeit + Wecken von Neugier + Selbstbewusstsein! L.EAR kann nicht begreifen, dass in Norddeutschland Jahr für Jahr mehr Jugendliche beim Wettbewerb „Jugend musiziert“ mitmachen - und ihr Rundfunk sie tagsüber mit der musikalischen Babyflasche abspeist. Dass die Kämpen klassischer Rundfunk-Qualität meist nur noch aus dem Abend- und Nachtprogramm herüberwinken. Und dass tagsüber zu viel Dilettantismus dominiert (wobei flotter Ton und Dilettantismus zwei Paar Schuhe sind).

Ja, momentan gibt es im NDR wohl kein Fachressort, in dem so viel dilettiert wird wie in Sachen E-Musik: Kein Fußballreporter, keine weiblichen und männlichen Redakteure für Politik, Gesellschaft, Theologie, Ernährung oder Reisen, kein Kinderprogramm-Macher darf so unprofessionell daherreden, wie bei NDR Kultur oft dahermoderiert wird. Vor vielen Jahren flog im ZDF mal eine arme Sportmoderatorin aus dem „Aktuellen Sportstudio“, weil sie aus Versehen „Schalke 05“ sagte. L.EAR hat im neuen NDR Kultur viele „Schalke-null-fünfs“ gehört: Nur einige Spot(t)lights:

1. „Sie hörten das Andante aus Tschaikowskys ‚Sérénade mélancolique‘“: Dass das ganze einsätzige Stück die Tempoangabe Andante hat, darf die moderierende „New Generation“ vermutlich gar nicht mehr wissen - sie wäre überqualifiziert. (Aber immerhin, da Tschaikowsky erklingt, wissen wir Hörer: Es ist nach 7 Uhr 30.)

2. „Sie hören jetzt Chopins Revolutionsetüde“: Man hört ein Orchesterwerk. „Sie hörten Chopins Revolutionsetüde.“ Es erklingt ein weiteres Werk. Danach folgen die korrekte Absage des letzten und die korrigierte Absage des vorletzten Stückes. Wahrscheinlich haben inzwischen ein paar Hörer angerufen. Das dürfte die zukunftsfähige Form interaktiven Rundfunks sein: Korrigier deinen Moderator!

3. „Sie hören jetzt Franz Schuberts ‚Forellenquintett‘. Es spielt das ‚Trio Fontenay‘.“ Und los geht's! Natürlich nicht mit dem ganzen Quintett, sondern - richtig geraten! - mit dem Finale (es ist Sonnabend-Nachmittag). Da L.EAR abschalten musste, hat er nicht mehr erfahren, ob den Hörern bei der Absage noch verraten wurde, wie ein Trio ein Quintett spielen kann...

4. Gern wandelt „The New Generation“ auf ungeahnten Geisteshöhen: „Maurizio Pollini spielte das Finale aus Ludwig van Beethovens ‚Mondscheinsonate‘. Ja, übermorgen ist wieder Vollmond.“ Spotlight, Tusch, nächstes Werk!

Manche Hörer (oder Ex-Hörer) halten das für Flachfunk, der den öffentlich-rechtlichen Bildungsauftrag verfehle und die Rundfunkgebühren nicht mehr wert sei. Ist NDR Kultur unter dem Druck sein langfristiges Sendungs-Bewusstsein abhanden gekommen? Oben erwähnter NDR-Schreiber hat dem besorgten L.EAR auf seine musikalischen Magenschmerzen hin versichert, „dass wir diesem veränderten Hörverhalten Rechnung tragen müssen, wenn wir nicht Gefahr laufen wollen, in ein paar Jahren ‚vor einem leeren Saal spielen zu müssen‘.“ Er hat ihn gewissermaßen zur Hör-Solidarität aufgefordert: Bleiben Sie dabei, wenn zur Rettung der Musik die Musik zerhäckselt wird. Doch was ist das für ein Rundfunk, der sich quotengelb vor Angst auf die Erde wirft, sich zitternd an den neuesten Trend klammert und den Hörern ins Ohr wimmert: „Ich spiel alles, was du willst - aber schalt  b i t t e  nicht ab!“ Faszinierende, neue, packende und geschickt verpackte Inhalte sind OUT. Angesagt ist Nicht-Abgeschaltet-Werden - um jeden Preis. IN ist notdeutsche Angsthasen-Klassik, OUT die offensive, anschauliche Verlockung des Hörers - mit allen Kräften und Kompetenzen, allem Innovationspotential, allen Höranreizen und Motivationstricks, aber auch aller Standfestigkeit, die der Rundfunk als Popularisierungs-Profi eigentlich draufhaben sollte. Fürs musikalische Sendungs-Bewusstsein des NDR reichen das Engagement beim Schleswig-Holstein-Festival, die sommerlichen Konzert-Mitschnitte, die Abend- und Nachtprogramm-Ecken für Klassik & Jazz doch nicht aus.

Kann NDR Kultur musikalisch nicht mehr selbstbewusst agieren, sondern nur noch ängstlich reagieren? Als L.EAR neulich vom Antwort-Schreiber des NDR um Verständnis dafür gebeten wurde, dass man dem „veränderten Hörverhalten Rechnung tragen“ müsse, wenn man nicht Gefahr laufen wolle, „in ein paar Jahren ‚vor einem leeren Saal spielen zu müssen‘“, verfiel L.EAR auf ein kleines Gedankenexperiment. Er erinnerte sich daran, dass in Deutschland (und nicht nur dort) jahrelang lautstark geklagt wurde: Im Computer-Zeitalter habe die Leselust von Kindern und Jugendlichen nachgelassen! Ihr Sprachverständnis sei unterentwickelt! Konzentrationsfähigkeit und Lese-Kondition nähmen ab! Lesen sei nur noch eine geistige Kurzstrecken-Disziplin! Laut wurde geklagt - und nicht ohne Grund. Doch was war dann vor einigen Jahren zu erleben? Eine junge Schriftstellerin hatte eine Idee zu einem Buch für Kinder und Jugendliche. Aus dieser Idee wurde ein fantasievolles, anspielungsreiches, teilweise witziges, nicht gerade dünnes Buch, das seine Leser lockte und belohnte, aber auch Lese-Kondition, Sprachverständnis und Konzentration forderte. Nachdem eine Reihe englischer Verleger hasenherzig abgewinkt hatten, griff ein mutiger, qualitätsbewusster Verlag (Bloomsbury) zu. Alle wissen: J. K. Rowlings „Harry Potter“ hat sich grandios durchgesetzt. Inzwischen sind vier weitere Bände gefolgt - einer dicker als der andere. „Harry Potter“ ist zum Lesekult, das Erscheinen neuer Bände zum „Event“ geworden (wobei die kommerziellen Interessen hier weder geleugnet noch diskutiert werden sollen). Ideenreichtum, Anschaulichkeit, Qualitätsbewusstsein und Mut haben eine ganze junge Generation erfolgreich herausgefordert. Autorin und Verlag haben es geschafft, dass Massen von Jugendlichen spannende dicke Bücher lesen (wollen). Beim letzten Band warteten viele deutsche Leser nicht mal mehr die deutsche Übersetzung ab, sondern besorgten sich vorläufig das englische Original.

Nun fragt sich L.EAR natürlich: Was wäre passiert, hätte Frau Rowling den kulturellen Mut des NDR gehabt? Vermutlich hätte sie aufgrund der beklagten Lese-Misere erstmal eine Umfrage gestartet. Hätte ein „Junge-Leser-Profil“ entwickelt. Hätte ihre Bücher kurz und immer kürzer gemacht. Mit hippen flotten Fünf-Minuten-Kapiteln. Um arme, konzentrationsschwache junge Leser bei der Stange zu halten. Um sie nicht zu überfordern. Band 5 wäre schließlich - ein Pixi-Buch geworden.

Doch Frau Rowling war mutig und erfolgreich. Dagegen sendet NDR Kultur tagsüber Pixi-Klassik. Und L.EAR hatte neulich sogar schon einen Alptraum: Da war der Werbeslogan NDR - das Beste am Norden ersetzt worden. Durch:

NDR Kultur - flach wie unser Land

Veröffentlicht mit freundlicher Genehmigung von www.die-tonkunst.de,
ursprünglich erschienen unter http://www.die-tonkunst.de/dtk-0411/Lear/ind.html

Lesen Sie außerdem von L.EAR:
L.EARs Neujahrs-Nachschlag
Bis vor wenigen Jahren konnten klassikinteressierte Jugendliche mit normalem oder unterdurchschnittlichem Taschengeldeinkommen Tag für Tag musikalische Vielfalt erleben - sofern die Eltern in der Lage waren, ein Radio zu kaufen und vielleicht auch noch die monatlichen Rundfunkgebühren zu bezahlen. Heute gibt's im Norden nur drei Arten, Kunstmusik zu hören: 1. Man beugt sich (...) dem Geschmacksdiktat des NDR...
DIE TONKUNST online / Ausgabe 0601 / 1. Januar 2006

Lesen Sie einen weiteren Brief des Musikchefs von NDR Kultur, Michael Schreiber, mit dem Argument „... wenn wir nicht Gefahr laufen wollen, in ein paar Jahren ‚vor einem leeren Saal spielen zu müssen‘.“:
Musikchef Michael Schreiber antwortet auf die Kritik des HTG-Vorsitzenden, 26. Februar 2004 - Das erste NDR-Dokument der Auseinandersetzung mit dem GANZEN Werk

Im Gegensatz zur zweiteiligen Kritikreihe im Vorjahr - bei der halben „Reform“ - hatte der Hörer Theodor Clostermann seine Kritik an der systematischen „Reform“ von NDR Kultur zum 1. Januar 2004 ironisch als wöchentliche Kritikreihe „Mein schönstes Hörerlebnis“ mit einer abschließenden offiziellen Information der HTG verfasst. Zusätzlich hatte er NDR Kultur darauf aufmerksam gemacht, dass er als Vorsitzender der Hamburger Telemann-Gesellschaft öffentlichkeitswirksam werden könnte.

Den Musikchef beeindruckt das gar nicht: „Das Hörverhalten hat sich insgesamt verändert. Dem müssen wir Rechnung tragen, ansonsten spielen wir bald vor einem leeren Saal!“

Mit diesem Antwortbrief wurde die weitere Entwicklung zum Brief an Frau Mirow (16. April 2004), zur Resolution „Kritik an NDR Kultur“ der Hamburger Telemann-Gesellschaft (25. April 2004) und zur Gründung des Initiativkreises Das GANZE Werk (15. Juni 2004) eingeleitet.