Kulturwellen im Nord-Süd-Profil

Sonnabend, 5. April 2008, 12.00 bis 24.00 Uhr

Ausgewählte Sternstunden

Zwölfstündiges Programmwunder

WDR 3 Radiotag zum 100. Geburtstag von Herbert von Karajan

Von Ludolf Baucke

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Fast kometenhaft mutet Herbert von Karajans Aufstieg vom Stadttheater in Ulm bis zum 1955 vom Orchester auf Lebenszeit berufenen musikalischen Leiter der Berliner Philharmoniker an. Die Stationen des Dirigenten sind bestens dokumentiert, da Herbert von Karajan schon früh die Segnungen der elektroakustischen Tonaufzeichnung erkannte und für sich nutzte. Aufnahmen mit dem Magnettonbandgerät, Stereoproduktionen, digitale Aufzeichnungen, die Ablösung der Schallplatte durch die Compact Disc, schließlich schon lange vor dem Erscheinen der DVD die Produktionen von Opernfilmen beweisen, dass der Pultstar auch auf der aufnahmetechnischen Klaviatur virtuos spielte.

Für die Kulturprogramme war es selbstverständlich, anlässlich seines 100. Geburtstages an Herbert von Karajan zu erinnern und Facetten seines medialen Wirkens aufzuzeigen. Das begann schon vor dem 5. April, kulminierte jedoch am Jubiläumstag, als der Südwestrundfunk das von allen ARD-Kulturprogrammen ausgestrahlte Nachtkonzert ausschließlich auf Einspielungen mit Herbert von Karajan ausrichtete. Die von Eleonore Büning moderierte Sendung schlug in sechs Stunden einen beispielhaften Bogen von Händels Wassermusik bis zu Anton Weberns Passacaglia op. 1. Griegs Holberg-Suite fehlte ebenso wenig wie Debussys „La mer“ oder der Strauß-Walzer „An der schönen blauen Donau“.

Das Thema Karajan wurde in den Kulturprogrammen unterschiedlich weitergesponnen - am eindrucksvollsten beim Westdeutschen Rundfunk, der „Das Wunder Karajan“ von Mittag bis Mitternacht aufschlüsselte und seinen „WDR 3 Radiotag“ von Programmschemata löste. Selbst die im Stundentakt fixierten Nachrichten wurden nur noch um 12.00, 15.00, 18.00 und 20.00 Uhr gesendet. Dazwischen zeichneten Karajan-Kenner in insgesamt vierundzwanzig Exkursen das persönliche, künstlerische und mediale Wesen des Dirigenten nach. Christa Ludwig, Jessye Norman und Dietrich Fischer-Dieskau erinnerten sich an Karajans Umgang mit Sängern. Mitglieder der Wiener und Berliner Philharmoniker sahen den Dirigenten von ihren Pulten. Unter der Überschrift „Ein erstklassiger Dirigent zweitklassiger Musik“ fächerte Joachim Kretzschmar Karajans Repertoire auf. Schon vorher hatte Peter Uehling Karajans Interpretationsstil mit dem Weg „Vom deutschen Kapellmeister zum ewig strebenden Perfektionisten“ erläutert.

Jeder Exkurs durfte sich zwischen vier und vierzig Minuten Zeit nehmen. Das Erörterte wurde durch musikalische Einblendungen belegt und mit einem musikalischen Finale veranschaulicht. Das von Klaus Geitel als Beweis für Karajans Schönheitsideal herangezogene Vorspiel aus Wagners „Die Meistersinger von Nürnberg“ in einer Aufnahme von 1939 mit der Staatskapelle Berlin war eine ebenso kostbare Trouvaille wie der 1957 entstandene Mitschnitt des dritten Satzes aus Beethovens c-Moll Konzert op. 37 mit dem Solisten Glenn Gould (im ARD-Nachkonzert vollständig). Dunkle Seiten des „Karajanwunders“ wurden offenkundig, als Frieder Reininghaus Karajans durch mehrfache Mitgliedschaft in der NSDAP belegte Beziehungen zum Nationalsozialismus referierte. Der Hinweis auf ein nach der Besetzung Frankreichs in Paris veranstaltetes Konzert, in dem Karajan vor Bachs h-Moll Messe das Horst-Wessel-Lied dirigierte, jagt noch mehr als sechzig Jahre später Schauer über den Rücken. Besonders anschaulich geriet Antony Beaumonts Exkurs über Karajan und Strawinsky. Der britische Musikwissenschaftler, Geiger und Dirigent belegte, wie Karajan das „Sacre du Printemps“ glättete. Für den Komponisten klang Karajans Interpretation „träger als Disneys dahinsiechende Dinosaurier“, und der Beginn des zweiten Teils weckte auch Assoziationen an Wagners „Walkürenritt“.

Der von Otto Hagedorn und Hans Winking gestaltete WDR 3 Radiotag animierte aufmerksame Hörer. Er faszinierte als zwölfstündiges Programmwunder. So ein ausgefeiltes Programm macht süchtig auf Hörfunk.