Praxis von NDR Kultur - Matinee

NDR Kultur, 6. Juli 2005, Matinee, 10 bis 11 Uhr

Was bleibt von der Sendestunde übrig - ohne
Kartenverlosung, Filmvorstellung und NDR-Kultur-Eigenwerbung?

Musikalisches Surfen durch Höhen und Tiefen...

Ein Hörprotokoll: Missbrauch der „Kulturinformationen“ - Für NDR-Kultur-Eigenwerbung werden sogar kurzfristig zwei Musikstücke ausgetauscht

Thema auf NDR Kultur: Surfen
Das Vergnügen der feuchten Wiedergeburt in einer rollenden Welle
Die Welle ist für den Surfer wie eine Frau oder auch Mutter: Sie liebt ihn, sie umfängt ihn, sie gebiert ihn, wenn sich der Kamm in perfekte Rundung schon wieder Richtung Wasseroberfläche krümmt und der Surfer aus dem so gebildeten Tunnel hervorschießt.“


M.H. um 10.32 Uhr in der Film-Vorstellung bei „Focus Kultur“ - Foto: PR

„Riding Giants“ auf NDR Kultur - Unnötig und Schleichwerbung?
4 Fälle in der Sendestunde: Versuch einer rechtlichen Bewertung

Musikalisches Surfen durch alle Höhen und Tiefen - Die Entstehung dieses Hörberichts
Urlaubszeit. So ist es mir möglich, auch vormittags NDR Kultur, die Matinee, zu hören. Die vier Nachrichtenmeldungen ab 10 Uhr sind nicht besonders aufregend. Doch der Opener, die fetzige Ouvertüre zu Abu Hassan, bringt mich auf Trab. So wollen es ja auch die Programmmacher. Mitten hinein die Verlosung von Konzertkarten. Meine Ohren spitzen sich ganz besonders, als Ort und Zeit des Konzerts wiederholt genannt werden. Das geschieht dann auch noch in zwei Durchgängen. Für wie ... hält man uns eigentlich?
Plötzlich ein kurzer Satz von Rameau - sehr schön und heute auf NDR Kultur eine Seltenheit, doch es fehlen alle restlichen Sätze, am Schluss „Tambourins“... Während mir das noch zu denken gibt, werde ich schon wieder aufgeschreckt und misstrauisch, schalte schnell meinen Rekorder ein, weil etwas Ungewöhnliches angekündigt wird: Die Vorstellung eines Surffilms auf NDR Kultur. Habe ich mich verhört? Wie gut zum Sortieren der gehörten Erlebnisse, dass der Beethoven-Satz etwas länger dauert, aber richtig zuhören kann ich jetzt nicht.
Der Rest ist registriert, die Schleichwerbung (?) dokumentiert. Erst nachträglich stellt sich heraus: Das Programm ist von gestern auf heute umgestellt worden wegen der nachhaltigen NDR-Kultur-Eigenwerbung um 20 vor 11 für die Interview-Sendung mit Helen Donath um 13 Uhr. Die Moderatorin nennt wieder mehrfach einen Termin, für wie ... eigentlich. Das nervt. Ich höre statt eines Satzes aus der Jupiter-Sinfonie jetzt eine alte Aufnahme mit dem Gast des genannten Termins und halte mir zwischendurch bei Passagen mit recht schriller Lyrik die Ohren zu.
Doch nein, in diesem Bericht geht es nicht um die Güte der gehörten Musik. In einer Stunde: massive Zweckentfremdung eines Kultursenders mit Werbung (?), Schleichwerbung (?) und NDR-Kultur-Eigenwerbung.
Theodor Clostermann, 9. Juli 2005

10.00 Uhr: Nachrichten + Wetter

10.04 Uhr: Kurze Begrüßung durch die Moderatorin Raliza Nikolov

Ouvertüre zum Singspiel Abu Hassan von Carl Maria von Weber (Dauer: 3 Minuten)

Kommentar: Opener zu einer neuen Runde auf NDR Kultur.

Block 1
Kartenverlosung ist auch Werbung für den nicht genannten Medienpartner „Festspiele Mecklenburg-Vorpommern“

10.07 Uhr: Rätsel und Verlosung von Karten für ein Konzert am Abend in der St. Marienkirche in Stralsund. Es ist ein Konzert mit dem Organisten Martin Rost und dem NDR-Chor unter der Leitung von Howard Arman. Es findet im Rahmen der „Festspiele Mecklenburg-Vorpommern“ statt und wird in der zweiten Julihälfte bei „Glocken und Chor“ gesendet wird, das erfährt der Hörer aber nicht. Ort und Termin des Konzerts in Stralsund werden deutlich 2x genannt. Die zu lösende Frage (multiple choice): Wann wurde Stralsund gegründet?

Kommentar: Das Rätsel und die Verlosung von Eintrittskarten sind selbstverständlich nur Mittel zum Zwecke der Werbung für das Konzert.

1. Satz (Allegro) des Klarinettenkonzerts Nr. 1 F-dur von Carl Stamitz (Dauer: 8 Minuten)

10.15 Uhr (pünktlich): Auflösung des Rätsels und wieder zweimalige Konzertankündigung. Angekündigt wird wieder: moderne geistliche Musik...
 

1. Satz (La Poplinière) aus dem Troisième concert en sextuor von Jean-Philippe Rameau (Dauer 4 Minuten).

Kommentar: Ein reiner Lückenfüller, der stilistisch überhaupt nicht zwischen die Moderationsinhalte passt und dazu dient, zusammen mit dem folgenden Satz von Beethoven eine knappe Viertelstunde Musik auszufüllen.

Block 2
„Kulturinformation“?
Oder Werbeblock für die Kino-Branche, eine Kino-Kette?

10.20 Uhr: Vorankündigung der Filmvorstellung „Riding Giants“ über das Surfen, ein neuer Film des Regisseurs Stacy Peralta, der selbst passionierter Surfer und ehemaliger Profi-Skateboarder ist.

3. Satz (Rondo. Allegro) des Klavierkonzerts Nr. 1 C-dur op. 15 von Ludwig van Beethoven (Dauer: 9 Minuten)

10.30 Uhr: Moderatorin: „NDR Kultur mit dem Rondo aus dem Klavierkonzert Nr. 1 C-Dur opus 15 von Ludwig van Beethoven. Mauricio Pollini wurde begleitet von den Berliner Philharmonikern, am Pult stand Claudio Abbado.“


Kein Jingle, Moderatorin: „Surfen ist ein Sport, Surfen ist ein Lebensgfühl. Verrückt zu sein nach den Wellen, süchtig nach dem Wind. Das ästhetische Vergnügen dazu für Surfer wie Nichtsurfer bieten ganz eigene Filme, die Surffilme. In ‚Riding Giants‘, der morgen in die Kinos kommt, entwirft Regisseur Stacy Peralta eine kleine Kulturgeschichte des Wellenreitens. [M.H.] hat den Film für uns gesehen.“

Kommentar: M.H. ist Autor von Motorradbüchern und hat auch ein Buch vom Strandkorb geschrieben.


M.H.: (Rockmusik) Surfer sind die Rocker des Wassersports, eine für lange Zeit misstrauisch beäugte Gruppe, die sich in den USA wie ehedem auch die Cowboys der Landstraße aus traumatisierten an den Rand gedrängten, beschäftigungslosen Zweite-Weltkrieg-Heimkehrern rekrutierte. Sie suchten das Abenteuer im Alltag. In den Augen der Durchschnittsbürger waren sie Nichtsnutze, Freaks, Verrückte.

(Englischer O-Ton: „I think...“) Entschiedenheit und Entschlossenheit braucht es, sagt der berühmte Laird Hamilton in „Riding Giants“. Er, der Superstar, der besessenste von allen. „Man darf nicht zögern,“ meint er, „wenn der Zeitpunkt gekommen ist, wenn die Welle dir sagt: Los, jetzt, dann beweg dich!“

(Englischer O-Ton, dann Rockmusik.) Bisweilen, wie könnte es anders sein, ist die Welle für den Surfer wie eine Frau oder auch Mutter: Sie liebt ihn, sie umfängt ihn, sie gebiert ihn, wenn sich der Kamm in perfekte Rundung schon wieder Richtung Wasseroberfläche krümmt und der Surfer aus dem so gebildeten Tunnel hervorschießt. Das sei tatsächlich wie eine Geburt, erzählen Surfer gerne, und das ist wohl so eine Art Wellenreiterlatein. Der normale Erdenbürger, wie ich einer bin, soviel ist sicher, wird nie zu diesem Vergnügen der feuchten Wiedergeburt in einer rollenden Welle kommen, einem höchst gefährlichen Unternehmen, übrigens wie jeder natale Vorganng.

(O-Ton: „Der alte hawaiianische Sport Surfen kann über tausend Jahre zurückverfolgt werden.“) Die Dokumentation „Riding Giants“ ist eine filmische Hymne auf das Surfen mit kurzem geschichtlichen Abriss und spannende Einführung in das Reiten besonders großer Wellen. Es werden jedes Jahr einige Surffilme gedreht, die meisten kommen freilich nie groß ins Kino, trotzdem sind sie ungemein erfolgreich. Die Fans sehen sie auf Kassette oder DVD, organisieren in einer Hütte am Strand umjubelte Vorführungen und nutzen die technischen Möglichkeiten des Zurückspulens sowie der Slow Motion, um den genialen Ritt wieder und wieder sehen und später für die Technik auf dem eigenen Brett memorieren zu können. Surffilme bilden längst ein eigenes Genre, freilich wie der Western ein sehr amerikanisches, und sie wie jetzt „Riding Giants“ auf einer möglichst großen Leinwand mit möglichst gutem Sound zu erleben, kann auch für Nichtsurfer zu einem prickelnd-unvergesslichem Erlebnis werden.
(Dauer der Vorstellung des Films: Auf die Sekunde genau 2:30 Minuten)


Moderatorin: „[M.H.] stellte uns den Fim ‚Riding Giants‘ von Stacy Peralta vor, morgen kommt er in die Kinos.“ Kein Jingle.


Informationen und Kommentare:

Eine Zusammenfassung von Sophie Albers in der Netzeitung lautet:
„Surfen ist keine Tätigkeit, es ist ein Zustand, sagen Menschen, die ihr Leben an Stränden und auf Surfbrettern verbringen. Ein Regisseur ist den Besessenen gefolgt.“

Auf der NDR-Homepage (NDR-Fernsehen, alle 8 Radiosender) wird der Film nur beim Jugendsender N-Joy behandelt.

„Morgen kommt er in die Kinos“ - das geht an der Wahrheit vorbei. Im NDR-Sendegebiet zeigen in der ersten Kinowoche - nach Internet-Recherchen auf den Seiten www.kino.de (Neu im Kino) und tickets.t-online.de (Kooperationsseite mit CinemaxX) - nur 4 Cinemxx-Zentren in Kiel, Bremen, Hamburg und Hannover sowie das „Abaton“ in Hamburg und der „Hansa-Filmpalast“ in Rostock „Riding Giants“, selbst 8 andere CinemaxX-Kinos im NDR-Sendegebiet zeigen - wenigstens in der ersten Woche - den Film nicht.

Die Kooperation zwischen dem NDR und CinemaxX kann hier nur angedeutet werden, Beispiel: „Eurovision Song Contest“ 2004 (Kinopolis ist Partner von CinemaxX). NDR Kultur berichtete vor kurzem von der Deutschlandpremiere des Films „Crossing The Bridge - The Sound Of Istanbul“ von Fatih Akin im Cinemaxx Dammtor in Hamburg.
Zwischen den CinemaxX-Kinos und NDR 2 gibt es eine ständige Kooperation. Zu mehreren Filmen heißt es:
Gewinnen Sie Tickets mit NDR 2!
In der NDR 2 Nachmittagsshow, in der NDR 2 Morgenshow und in der NDR 2 Wochenendshow am Sonnabend haben Sie die Chance zu gewinnen: Tickets für die CinemaxX-Kinos im ganzen Norden. Einfach reinhören und Kinospaß abstauben!“
(Einzelnachweise, mehr Informationen zum Film). 

10.34 Uhr, Moderatorin: Es folgt eine Meldung zum Tod des Drehbuchautors Ernest Lehman.

„Sie hören NDR Kultur. Die Academy of St. Martin-in-the-Fields spielt unter der Leitung von Neville Marriner aus den Lyrischen Stücken von Edvard Grieg.“ (Dauer der Moderation: 1 Minute)

Kommentar: Wegen der Todesmeldung (Anlass und Dauer) verzichtete NDR Kultur auf das Senden des Jimgles an dieser Stelle, normalerweise ein NDR-Kultur-Muss.

10.35 Uhr: Hochzeitstag auf Troldhaugen, op. 65 Nr. 6. von Edvard Grieg in der Fassung für Orchester (Dauer: knapp 6 Minuten)

Moderatorin: „Hochzeitstag auf Troldhaugen aus den Lyrischen Stücken für Klavier, op. 65 von Edvard Grieg in einer Fassung für Orchester, gespielt von der Academy of St. Martin-in-the-Fields, dirigiert von Neville Marriner.“

Moderatorin: „Troldhaugen ist das norwegische Anwesen von Edvard Grieg. Hier hat er die meisten seiner zahlreichen Lyrischen Stücke komponiert. Heute kann seine Villa besichtigt werden. In dem Museum befindet sich auch der Steinway-Flügel Griegs, ein in Hamburg gebautes Instrument von 1892.“

Kommentar: Sinnvolle Information oder doch mehr touristischer Hinweis aus Anlass des Stückes? Interessant ist die Steigerung im Text: Erst ist es ein „Anwesen“, dann eine „Villa“ und schließlich ein „Museum“. Wenn dort schon ein Steinway-Instrument steht und es auch noch aus Hamburg kommt, dann, ja dann...
 

Moderatorin: „NDR Kultur jetzt mit dem 3. Satz...“

10.41 Uhr: 3. Satz (Allegro assai) des Konzerts für Oboe d'amore D-dur, IB 53, von Johan Helmich Roman (Dauer: 5 ½ Minuten)

Moderatorin: Absage des Musikstücks, ohne Nennung der Verzeichnisnummer

Block 3
Werbeblock für die Sendung „Klassik à la Carte“

Kommentar: Der folgende Teil war wohl erst kurzfristig in das Programm genommen worden. Jedenfalls sind die beiden letzten Stücke, die erst am Vortag für diese Stunde veröffentlicht worden waren, durch zwei andere ausgetauscht worden:
1. wegen des Werbebeitrags
2. aus Zeitgründen.

Vorgesehen waren:
• Der 1. Satz (Allegro vivace) der Jupiter-Sinfonie, Sinfonie Nr. 41 C-dur, KV 551, von Wolfgang Amadeus Mozart und • Der 3. Satz (Presto) des Violinkonzerts Es-dur, RV 253 (La tempesta di mare) von Antonio Vivaldi.


Moderatorin: „Heute ist Helen Donath zu Gast in unserer Reihe ‚Klassik à la Carte‘ ab 13 Uhr. Ihr 40-jähriges Bühnenjubiläum hat sie schon vor einiger Zeit gefeiert, am Sonntag wird sie 65 Jahre alt. Doch nach wie vor begeistert die aus Texas stammende Sängerin ihr Publikum, nimmt immer wieder neue Herausforderungen an. So hat die lyrische Sopranistin ihr Repertoire noch in den vergangenen Jahren um Rollen wie die der Marschallin im Rosenkavalier von Rchard Strauss oder die der Desdemona in Verdis Othello erweitert. Ihre Stimme ist für sie ein Geschenk, ein Geschenk, das gepflegt sein will und in Ehren gehalten...“ (Dauer: 50 Sekunden)

Es folgt ein Originalausschnitt des Gesprächs mit Helen Donath ab 13 Uhr. (Dauer: ebenfalls 50 Sekunden)

Moderatorin: „Die Sopranistin Helen Donath erzählt heute Mittag ab 13 Uhr ausführlich aus ihrem Leben in unserer Gesprächsreihe ‚Klassik à la Carte‘ auf NDR Kultur.“


„Und wir hören sie jetzt...“ (vollständige Ansage)

10.48 Uhr: Arie „Nehmt meinen Dank ihr holden Gönner“ für Sopran und Orchester, KV 383, von Wolfgang Amadeus Mozart (Dauer: 4 Minuten)

Moderatorin: „NDR Kultur mit der Arie... Helen Donath sang begleitet von der Camerata Academica Salzburg unter der Leitung von Bernhard Paumgartner.“


10.53 Uhr, Moderatorin: „Die Sopranistin ist, wie gesagt, heute zu Gast in unserer Reihe ‚Klassik à la Carte‘. Ab 13 Uhr können Sie die Künstlerin, die am 10. Juli ihren 65. Geburtstag feiert, auch mal im Gespräch erleben.“ - Kein Jingle.

Kommentar: „Auch mal“ oder, „wie gesagt“, „ausführlich“? Es ist wenigstens 3x raus. Wer weiß, wie oft es sonst noch im Laufe des Vormittags verkündet wurde? Lästig. Eine NDR-Kultur-Eigenwerbung, die nachweislich den Programmablauf verändert, ja sogar bestimmt hat.
 

Keine Ansage.

1. Satz des 1. Trompetenkonzerts in Es-Dur von Joseph Haydn (Dauer: 6 Minuten)

10.59 Uhr, Moderatorin: „NDR Kultur. Hakan Hardenberger spielte begleitet von der Academy of St. Martin-in-the-Fields unter Leitung von Neville Marriner den 1. Satz aus dem Trompetenkonzert Es-Dur Hob VIIe:1 von Joseph Haydn.“

Kommentar: Zum dritten Mal Academy of St. Martin-in-the-Fields in einer Stunde...

Moderatorin: „In der kommenden Stunde wollen wir dem Dalai Lama, ... zum 70. Geburtstag gratulieren.“ Jingle.

11.00 Uhr: Nachrichten

„Riding Giants“ auf NDR Kultur - Unnötig und Schleichwerbung?
4 Fälle in der Sendestunde: Versuch einer rechtlichen Bewertung