Das GANZE Werk - Hörer-Analyse/Media-Analyse, NDR Kultur

Das GANZE Werk, 17. September 2005

Warum fallen die Hörerzahlen?
Eine Parodie zu den neuen Hörerzahlen von NDR Kultur

Die Geschichte vom Zahlenverwalter und vom kleinen Prinzen

Mit 5-Minuten-Musikstücken und ständiger Werbung für NDR Kultur und seine Partner können keine Begeisterungsstürme entfesselt werden...

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- Fünfzigtausendzweihundert, Strich. Fünfzigtausendzweihundertundeins, ich bin ein seriöser Mensch, fünfzigtausendzweihundertundzwei...
- Was machst du da?
- Ich verwalte, fünfzigtausendzweihundertunddrei...
- Wie, ich verwalte? Was verwaltest du?
- Das hörst du doch, Zahlen, fünfzigtausendzweihundertundvier, fünfzigtausendzweihundertundfünf, ...
- Und was sind das für Zahlen? Wenn ich Musik höre, dann zähle ich doch nicht.
- Das sind Zahlen von Radiohörern, von Musikhörern... Hmmh, von Kulturhörern, Hörer von NDR Kultur. Diese Zahlen sind viel wichtiger als deine Musik.
- Wie? Schaust du mit dem Fernrohr in die Wohnungen, in die Autos, wer im Radio NDR Kultur hört? Das geht doch gar nicht.
- Also. Ich bin ein seriöser Mensch. Ich beauftrage renommierte Fachleute, telefonisch zu erfragen, wer NDR Kultur am Vortag hörte. Als sich von den 11.385.000 Menschen - das war die Zahl der Erwachsenen ab 14 Jahren im NDR-Sendegebiet im März - etwa jeder Fünfzigste daran erinnerte, es also 2,0 Prozent waren, war meine Zahl 227.000. Jetzt gibt es im NDR-Sendegebiet 11.404.000 Erwachsene. Fünfzigtausendzweihundertundsechs, Fünfzigtausendzweihundertundsieben...

- Merkwürdig. Wenn jemand irgendeinen Sender nennt, einfach den, der ihm gerade einfällt...
- Moment, ich bin seriös, austricksen lasse ich mich nicht. Fünfzigtausendzweihundertundacht, fünfzigtausendzweihundertundneun, fünfzigtausendzweihundertundzehn, Strich. Wir helfen den Hörern, dass sie sich richtig erinnern. Wir senden mindestens 5x pro Stunde unser Erkennungszeichen, unseren unnachahmlichen Jingle, und unseren Wahlspruch „NDR Kultur - der Klassiker“. Das macht unsere Marke unverkennbar und wiedererkennbar, fünfzigtausendzweihundertundelf. „Den Namen des Programms bekannt zu machen, hat sich als dringend nötig erwiesen, da es nur dann bei den regelmäßig stattfindenden Meinungsumfragen richtig genannt und somit in Bezug auf seine Hörerzahl korrekt gemessen werden kann.“ (Wellenchefin von NDR Kultur, Barbara Mirow)
- Da wäre ich jetzt aber auf Klassik Radio gekommen...
- Rrrrrrrrrrrrh. 50.212, 50.213, 50.214, 50.215, 50.216, 50.217. Ja, rrrrrrh, ich habe die Moderatoren angewiesen, zusätzlich pro Stunde 10x auf „NDR Kultur“ hinzuweisen, eingebettet in die Moderation. „Es ist 7 Uhr 15, in drei Minuten geht die Sonne auf, hier bei uns auf NDR Kultur...“ Das zeigt dem Hörer, dass wir ganz in seiner Nähe sind. Und wir sind auch zeitweilig in seinen Zeitungen sehr präsent. Vom 9. Januar bis zum 24. April 2005 war die sogenannte letzte Erhebungswelle der Telefonumfrage. Im März und April haben wir die einprägsame Anzeigen-Serie mit unseren Prominenten-Partnern Thomas Quasthoff, Maria Furtwängler, Ulrich Wickert, Dominique Horwitz, Volker Lechtenbrink und Christian Quadflieg und mit dem Slogan „Ich höre NDR Kultur.“ in Norddeutschland aufgegeben.
- Kostet das nicht wahnsinnig viel Geld, ich meine Gebührengelder?
- Nur bedingt, da mache ich mir keine Sorge. Die Zeitungen berichten dann auch gern über die Aktionen vom NDR, das ist wie ein Nehmen und Geben unter Partnern. Und die Aufsichtsgremien sind froh, wenn die Zahlen, ähh die Hörerzahlen steigen. Leider mussten wir in Hamburg vorzeitig aufhören, weil einige Eiferer... Da: Hamburg 27.000. Ei, das waren doch 33.000! Na, dann sind es mit Hamburg bloß siebenundsiebzigtausendzweihundertundsiebzehn. Weil also einige Eiferer vom Ganzen Werk unseren Prominenten-Partnern einen Hörboykott angedroht haben. Das wäre ja kontraproduktiv gewesen.
- Welche Eiferer?
- Na, rrrrrrh, die Geschmackspolizisten, die Kultur-Ajatollahs um Herrn Clostermann. Vier Stunden lang - siebenundsiebzigtausendzweihundertundachtzehn, siebenundsiebzigtausendzweihundertundneunzehn, siebenundsiebzigtausendzweihundertundzwanzig, Strich - Sendungen mit ganzen Werken? Es gibt ja kaum Opern, die so lang sind... Siebenundsiebzigtausendzweihunderteinundzwanzig.
- Und wenn ich dein Programm - nicht: Klassik Radio - höre, unterbrichst du mich dann auch dauernd mit deinen Zahlen?
- Nein, siebenundsiebzigtausendzweihundertzweiundzwanzig, die Zahlen verwalte ich hier, ganz allein. Ich bin ein seriöser Mensch. Da: Mecklenburg-Vorpommern 12.000... WAS? Das waren im März doch 23.000? Also, Mecklenburg-Vorpommern 12.000, das macht jetzt neunundachtzigtausendzweihundertzweiundzwanzig. Nein wir spielen unterhaltsame Klassik-Sätze und dazwischen verlässliche und kompetente Kulturinformation.
- Einzelsätze, das begreife ich nicht. Wenn ich meine Blume gieße, dann gieße ich doch auch nicht nur ein Blatt. Ich gieße die ganze Blume, mit viel Hingabe.
- Neunundachtzigtausendzweihundertdreiundzwanzig. Du bist wohl irgendwie von einem fernen Stern. Die Musik ist doch nur Begleitmusik. Auch NDR Kultur wird „heute tagsüber zum Nebenbeihören genutzt.“ Wir haben aber so viele Kulturpartner, die etwas an die Hörer weitergeben möchten, dass wir Mühe haben, alle Informationen und Tipps, neunundachtzigtausendzweihundertvierundzwanzig, unterzubringen. „Der gefundene programmliche Kompromiss, wird - denke ich - allen gerecht: NDR Kultur sendet am Tage ein musikalisch facetten- und abwechslungsreiches Musikprogramm und viele tagesaktuelle kulturelle Informationen.“
- Wenn ich ein Konzert von Mozart oder eine Sinfonie von Beethoven nicht ganz hören kann, dann schalte ich lieber das Radio aus und höre mir eine CD an.
- Richtig, neunundachtzigtausendzweihundertfünfundzwanzig. Hmmh, ich rate dir trotzdem lieber, neunundachtzigtausendzweihundertsechsundzwanzig, dranzubleiben. Wir machen NDR Kultur für die Hörer wirklich spannend, es gibt immer etwas Neues. Die Hörer erfahren das Aktuellste über die besten Solisten, die besten Dirigenten und die besten Orchester dieser Welt (für sich: wenn der Computer-Informationsdienst nicht versagt), über das NDR-Sinfonieorchester, über die Veranstaltungen unserer Kulturpartner, über die Gesprächspartner in „Klassik à la Carte“, über die Kultursendung am Abend auf NDR Kultur, über das nächste Konzert von NDR Kultur, sie erfahren das Aktuellste von der Oper, vom Theater, vom Kino, vom CD-, Hörbuch- und Buchmarkt, den ARD- oder ZDF-Fernsehtipp, das Aktuellste von NDR Info, das Aktuellste... Neunundachtzigtausendzweihundertsiebenundzwanzig. Und wir verlosen jeden Tag Eintrittskarten zu Veranstaltungen unserer Partner, wer macht das sonst? Wer bei uns bleibt, kann sich glatt die Tageszeitung schenken. „Hörfunk (ist) ein sehr aktuelles Medium, das man auch so nutzen kann: Man steigt in einen Info-Kanal ein, man wechselt auf einen anderen Kanal, auf NDR Kultur, um kulturelle Informationen schwerpunktmäßig zu haben, um Musik zu hören. (...) Das liefert Ihnen niemand. Das liefern die Zeitungen nicht, die dann später kommen und älter sind.“ (NDR-Intendant Prof. Jobst Plog)
- Das ginge mir - glaube ich - auf den Sender. Es würde mich verwirren. Worauf soll ich mich da konzentrieren? Sag mal, stört es deine Zahlen, wenn ich da nicht mitmache?
- Ich bin ein seriöser Mensch, neunundachtzigtausendzweihundertachtundzwanzig, neunundachtzigtausendzweihundertneunundzwanzig. Wir wollen ja neue Hörer - wie dich - gewinnen. Du brauchst dich wirklich nicht zu konzentrieren, Stichwort: „Begleitmedium“. Um dem jungen Hörer die Orientierung zu erleichtern, senden wir vor jeder Kulturinfo und vor jedem Kulturtipp eine Vorankündigung: „Gleich unser CD-Tipp nach Musik von Johann Christian Bach.“. Statt also eine CD zu hören, solltest du lieber einen solchen Kultur-Block aus Wort und Musik hören: Musikstück - Vorankündigung - Musikstück - Kulturinfo oder Kulturtipp - Musikstück. Das ist die richtige Portion, und das ist länger als eine Viertelstunde...
- Wie? Dann sind es ja doppelt so viel Wortbeiträge? Und warum ist das wichtig, länger als eine Viertelstunde?
- Ganz einfach: ein Musikstück dauert im Durchschnitt fünf Minuten und der Hauptbeitrag zusammen mit den Worten des Moderators vier. Wenn jemand bei der Telefonumfrage sagt, dass er gestern mindestens eine Viertelstunde lang NDR Kultur gehört hat, dann ist das wieder eine Zahl für mich, neunundachtzigtausendzweihundertdreißig, Strich. Ich bin ein seriöser Mensch, neunundachtzigtausendzweihunderteinunddreißig.

Merke kleiner Prinz: solange du auch nur eine Viertelstunde „auf NDR Kultur“ verweilst, ob begeistert oder zerknirscht, ob kurz oder lang, ob tagsüber oder am Abend, zählst du für unseren Zahlenverwalter.

Unser Zahlenverwalter ist nur noch bis zur Zahl zweihundertundneuntausend gekommen. Das sind 1,8 Prozent der 11.404.000 Erwachsenen. Er ist ganz ruhig geworden und träumt von den fehlenden achtzehntausend oder 0,2 Prozent.

Merke Zahlenverwalter: Der Kunde ist König, der Kunde soll zufrieden sein - auch bei der Marke NDR Kultur. Doch unvollständige Werke, ständige Wiederholungen und aufdringliche Hinweise auf NDR Kultur und seine Kulturpartner verringern beschleunigt die Hördauer. Wen wundert's, wenn der Wert dann auf unter 15 Minuten fällt? Könige schon gar nicht, selbst Untertanen machen da irgendwann nicht mehr mit. - Die flankierenden Maßnahmen für bessere Zahlen - Jingle, das Nennen von „NDR Kultur“, Kultur-Blöcke von gut 15 Minuten mit Musik-Wort-Musik-Wort-Musik, Werbung mit Prominenten-Partnern usw. - wirken nicht aufbauend, sondern zersetzend. Sie nerven, sie provozieren. Herr Zahlenverwalter, wir raten Ihnen lieber, auf die Erwartungen des GANZEN Werks einzugehen.

NDR Kultur - Hörer gestern (Mo-Fr)
Gebiet 2005 I (März) 2005 II (Juli)
Hamburg 2,6 % 2,1 %
Niedersachsen 1,9 % 1,9 %
Mecklenburg-Vorpommern  1,5 % 0,8 %
Schleswig-Holstein 2,2 % 2,1 %
NDR-Sendegebiet 2,0 % 1,8 %
oder 227.000 209.000

abgeschlossen am 17. September 2005

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Das GANZE Werk, 23. März 2006

Die (halb-)öffentliche Stellungnahme des NDR-Hörfunkdirektors im Februar 2005:
„Wir haben neue Hörer hinzugewonnen, und die Mehrheit der bisherigen Stammhörer begrüßt die Reform.“
wir im NDR, Februar - Ausgabe 64 | Februar 2005
ZEITUNG FÜR MITARBEITERINNEN UND MITARBEITER