Praxis von NDR Kultur - Die Stars

Momentaufnahmen im September und Oktober 2005

„Schöner als mit einer Göttin kann der Morgen nicht anfangen“

NDR Kultur im Dienste von Platten-Profis?

Breit angelegte Werbekampagnen für einige auserwählte Stars und keine Orientierung für Musikliebhaber (Dokumentation)

Von Theodor Clostermann
unter Mitwirkung von Margit Siebert und von vielen Informanten

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Gliederung
Die „Göttin“ Anna Netrebko
Die jungen Stars der Oper: Anna Netrebko, Josepf Calleja und Villazón Rolando
Rosinenpickerei - Pause für die anderen Jungstars der Oper
Wo bleibt zum Beispiel die berühmte finnische Sopranistin Karita Mattila?
Junge Stars zum Mozartjahr 2006: Martin Stadtfeld (Klavier)
Alternativen? Zum Beispiel Piotr Anderszewski (Klavier)
Junge Stars zum Mozartjahr 2006: Julia Fischer (Violine)
Anne-Sophie Mutter kommt mit einem „Porsche“-Orchester ins Schlingern
Vergleich: Sendungen auf NDR Kultur mit Julia Fischer und Anne-Sophie Mutter
Missbrauch anderer Musiksätze für die Anne-Sophie-Mutter-Kampagne
Zwei tagsüber vernachlässigte Stars mit Mozart-Violinkonzerten: Baiba Skride und Katrin Scholz
„Große Stimmen“: Luciano Pavarotti feiert 70. Geburtstag
Ein „großer Star der Musik“: Leonard Bernstein
Die Phonoindustrie präsentiert ihre Stars - NDR Kultur ihr ergebener Partner?
Der heiße Draht zur Plattenindustrie weist den Weg, viele andere Zugänge werden versperrt...
... ist NDR Kultur die „Geschmackspolizei“ im Norden Deutschlands?

Das Konzert war verklungen, Kerzen wurden nicht mehr geschwenkt. Katermittwoch, 19. Oktober 2005, morgens um 7.15 Uhr. NDR Kultur sendet passend zu dem Jubelbericht von Sabine Lange über das Konzert am Vorabend mit Anna Netrebko (Sopran) und Josepf Calleja (Tenor) die Arie der Violetta „Addio del passato“ aus dem 3. Akt der Oper „La Traviata“ von Giuseppe Verdi mit Anna Netrebko und den Wiener Philharmonikern unter der Leitung von Carlo Rizzi. Ich selbst bin schon seit langer Zeit geneigt, hier auf der Homepage die Behauptung aufzustellen, die NDR-Kultur-Moderatoren würden ihre großen Stars vergöttern, so salbungsvoll sind immer wieder ihre schwärmenden Worte für sie. Das brauche ich nicht mehr. Einen 100-prozentigen Beweis liefert NDR Kultur selbst. Im Anschluss an die Arie sagt ein Moderator: „Schöner als mit einer Göttin kann der Morgen nicht anfangen“. Ihm empfehle ich zur Information über Alltägliches aus dem Leben der hochverehrten Anna Netrebko ihr Interview in der Zeitung „BLICK“ (Schweiz) oder ihr Interview in der „Süddeutschen Zeitung“. Für einen anderen Moderator ist sie „die Märchenprinzessin aus Sankt Petersburg“, auf deren Aufnahmen er „sehnsüchtig wartet“ (13. Oktober 2005, 10.17 Uhr).

Die jungen Stars der Oper:
Anna Netrebko, Josepf Calleja und Villazón Rolando

Zur Verleihung der „Echo Klassik“-Preise am 16. Oktober 2005 in München und zum Gala-Konzert am 18. Oktober 2005 in der tui-Arena in Hannover mit den Preisträgern und Starsolisten Anna Netrebko und Josepf Calleja überschlug sich die NDR-Kultur-Werbemaschine. Zufälligerweise hatte sich Das GANZE Werk die Woche vom 10. bis 16. Oktober 2005 für eine Gesamtaufzeichnung ausgesucht, um einmal vollständig alle Sendungen zwischen 6 bis 19 Uhr zu dokumentieren. So haben wir reichlich Belege für diesen Höreindruck.

Weil der NDR in Hannover Mitveranstalter war, gab es allein dazu zahlreiche Veranstaltungtipps, sprich Werbebotschaften: als Werbetrailer oder immer wieder als Moderations-Umrahmung zu wenigen ausgewählte Arien mit den beiden Solisten und mit Rolando Villazón (Tenor). Zusätzliche Höhepunkte, auch jeweils wieder beworben: Rolando Villazón war am 19. Oktober 2005 Gesprächsgast bei „Klassik à la Carte“. Am 27. September 2005 wurde die neue CD „The Golden Voice“ von Josepf Calleja 2x als Hörtipp vorgestellt, am 13. Oktober 2005 schließlich die neue CD Verdi „La Traviata“ mit Anna Netrebko und Rolando Villazón.

Weil Anna Netrebko oft als die Maria Callas von heute bezeichnet wird, hat der Musikkritiker Reinhard J. Brembeck von der „Süddeutschen Zeitung“ aus Anlass eines Open-Air-Konzertes am 17. Juli 2005 auf dem Münchner Königsplatz Aufnahmen von Maria Callas und Anna Netrebko verglichen. Nach der Einleitung:

Immer wieder hat Netrebko sich gegen die oft blauäugigen Vergleiche mit Maria Callas gewehrt. Zu Recht. Denn Netrebko hat zwar die schönere, wenn auch unpersönlichere Stimme - aber das ist auch das einzige Moment, das sie musikalisch über ihre Konkurrentin erhebt.

kommt er zu folgendem Ergebnis:

Aufschlussreich ist ein Vergleich. So singt Netrebko auf ihren CDs Anfangs- und Schlussauftritt der Schlafwandlerin von Bellini. Man höre sich jedoch einmal an, wie das die Callas Anfang Juli 1957 live in Köln gemacht hat. Da geht so einiges schief. Aber die Ruhe der Callas in den ariosen Teilen, ihre Phantasie im Setzen der Koloraturen, ihre Intensivierung in den schnellen und kompositorisch immer etwas schlichten Schlusspassagen, ihr Raffinement in Phrasierung und Tonführung - das überwältigt. Danach nehmen sich Netrebkos Studioaufnahmen brav und bieder aus. Das ist schon schön gesungen - aber auch schnell langweilig. Weil die Netrebko im Gegensatz zur Callas eben keine phantasievoll filigrane Gestalterin ist. Weil sie, gerade in den schnellen Passagen, die Führungsrolle ans Orchester verliert, weil sie keine wirklich schnelle Attacke besitzt, die Töne etwas pomadig aussitzt und die Koloraturen nicht mit mitreißender Brillanz singt. Das Gefühlige ist ihre Sache, die jubelnde Virtuosität ist es nicht.

Was wird die Zeit bringen?

Rosinenpickerei - Pause für die anderen Jungstars der Oper

Die anderen jungen Opernstars wurden in dieser Zeit in den Hintergrund gerückt. Anna Gheorghiu (75x tagsüber auf NDR Kultur von Oktober 2004 bis Oktober 2005, außerdem abends am 7. August 2005 aus Orange in der Übertragung der Oper „La Bohème“ von Giacomo Puccini gesendet) verträgt sich zum Beispiel schlecht mit Anna Netrebko, Konkurrenz im gleichen Fach.

NDR Kultur wirbt - neudeutsch heißt es „featuret“ oder „promotet“ - in gezielter Weise. Das Spektrum der neuesten musikalischen Entwicklung wird nicht dargestellt. Erst recht wird mit dieser einseitigen Konzentration auf die wenigen Stars am Opernhimmel die musikalische Entwicklung in den Opernhäusern des NDR-Sendegebietes arg vernachlässigt.

Wo bleibt zum Beispiel die berühmte finnische Sopranistin Karita Mattila?

Karita Mattila begeistert schon seit zwei Jahrzehnten international das Publikum. Zu ihrem letzten großen Konzert mit Liedern in russischer Sprache in der 14. Sinfonie von Schostakowitsch zusammen mit den Berliner Philharmonikern unter Simon Rattle am 16., 17. und 18. September 2005 schreibt die „Berliner Zeitung“ (19. September 2005):

Einen Zug ins Große bekam diese Aufführung durch Karita Mattila. Diese an Janacek gewachsene Sängerin verfügt nicht nur über einen großen Reichtum an Stimmfarben, sie weiß diese Fülle der Mittel auch zu zügeln. Ihr Gesang wahrte stets die Balance zwischen bedeutungsprägenden sprachlichen Gesten und deren musikalischer Stilisierung.

Und wo bleibt sie auf NDR Kultur? Mit der Digitalisierung von NDR Kultur im August 2004 scheint sie auf eine rote Liste gesetzt worden zu sein. Am 11. März 2003 hat Jürgen Kesting sie in der Sendung „Große Stimmen“ vorgestellt, die Homepage von NDR Kultur zitiert dazu die „Sunday Times“:

Die frühere Primadonna hat sich zu einer echten Operndiva gemausert, sie ist die gefragteste Sopranistin der Welt.

Aber nicht mehr auf NDR Kultur. Im Tagesprogramm ist sie - obwohl die einstündige Sendung „Belcanto“ am Sonnabend seit einem Jahr dazu reichlich Gelegenheit gibt - seit Mai 2004 auch nur im Mai 2004 zu hören: zum ersten Mal am 3. Mai 2004 in der Hörprobe „Karita Mattila singt Lieder von Sibelius und Grieg“ und während des normalen Tagesprogramms zum zweiten und letzten Mal am 16. Mai 2004 mit Richard Strauss, Verführung, op 33 Nr. 1 in Begleitung der Berliner Philharmoniker unter der Leitung von Claudio Abbado. Am Abend tauchte sie in Nebenrollen 1x im Jahr 2004 und 2x in diesem Jahr auf. Eine unglaubliche Ver- und Missachtung einer bedeutsamen Künstlerin durch NDR Kultur.

Weitere vernachlässigte Sänger sind zum Beispiel Vesselina Kasarova (relativ) und Ian Bostridge (absolut).

Junge Stars zum Mozartjahr 2006: Martin Stadtfeld (Klavier)

Die anderen jungen Sterne am musikalischen Himmel von NDR Kultur bereiten schon das Mozartjahr 2006 vor.

Da ist zunächst in chronologischer Reihenfolge Martin Stadtfeld, dessen neue CD mit den beiden großen Moll-Klavierkonzerten KV 466 und KV 491 von Wolfgang Amadeus Mozart zusammen mit dem NDR Sinfonieorchester unter Bruno Weil 2x am 13. September 2005 in der „Hörprobe“ vorgestellt wurde.

Nach der Musikliste vom 25. Juni 2004 war der Pianist Martin Stadtfeld - wahrscheinlich - Gast bei „Klassik à la Carte“ mit drei von ihm gesendeten Stücken. Als nach der Einspielung der Bachschen Goldberg-Variationen seine zweite CD, „Bach pur“, herauskam, gab es dazu am 1. Dezember 2004 eine „Hörprobe“. Trotz dieser beiden Ereignisse bleibt er ansonsten längere Zeit im tagtäglichen Programm von NDR Kultur unberücksichtigt. Erst nach der Produktion der neuen CD mit dem NDR Sinfonieorchester im Juni 2005 wird er richtig für die Sendungen entdeckt.

Vom 1. Juli bis zum 8. September 2005 gab es laut Musiklisten 5 Stücke mit Bach-Interpretationen. Kaum ist die CD erschienen, startet schlagartig die Kampagne. Allein seit der „Hörprobe“ am 13. September haben wir an 18 Tagen im Monat September 11 gesendete Einzelsätze mit Martin Stadtfeld gezählt, vorzugsweise von dem Konzert in d-moll, KV 466.

Allerdings scheiden sich an der musikalischen Qualität des Spiels von Martin Stadtfeld die Geister. Eine Hörerin berichtete uns gleich am 13. September 2005 nach ihrem Höreindruck des gesendeten Satzes zum Spiel des Pianistin, dass „seine Vortragsweise im Verhältnis zu anderen (ihr) bekannten Aufnahmen nicht überzeugend“ sei, weil „die Noten zu abgehackt, zu einzeln gespielt“ seien. Sein Spiel habe „zu wenig Ausstrahlung“ und das Verhältnis zwischen Solist und Orchester sei „nicht stimmig“.

Noch heftiger geht der Rezensent des „FONO FORUMS“, Ingo Harden, in der November-Nummer zu Werke:

Für großen Mozart wirkt sein Temperament zu wohltemperiert, sein Ton zu farblos, im Artikulationsspektrum zu eng (und zum Non-Legato hin verschoben), seine Melodiebildung zu wenig intensiv und belkantistisch. (...) ich erinnere mich nicht, sie (die beiden langsamen Sätze) in jahrzehntelanger Praxis jemals banaler gehört zu haben.

Und in einem Artikel zur Vorstellung aktueller Mozart-Aufnahmen heißt es in dem Artikel von Wolfram Goertz „Aus heiterem Himmel“ in der „ZEIT“:

Im Kopfsatz des d-moll-Konzerts kommt Stadtfeld einmal dermaßen vom Weg ab, dass man ihn gleich zu Bach zurückschicken möchte, bevor weiteres Unheil passiert. Er hat eine eigene Kadenz komponiert, die mit ihrem Akkordgepolter und ihren billigen Sequenzen wie früher Beethoven klingt, der soeben durchs Tonsatzexamen fällt.

Unsere nächste Rezensentin ist Margarete Zander. Sie arbeitet für viele Sender. Für NDR Kultur betreut sie die Sendungen „neue musik“ (Mi., gegen 21 Uhr), „CD-Neuheiten“ (So., 18.20 Uhr) und mehrere Folgen der neuen Reihe „Die großen Stars der Musik“. Als hätte sie diese CD in Gold bekommen, schreibt sie in ihrer Kritik in dem „Rondomagazin“:

Es liegt etwas Zartes, Filigranes in dieser Aufnahme, ein Hauch von Trauer des Requiems und die Freude der „Hochzeit des Figaro“. (...) Das Schönste an dieser Aufnahme: Durch das schnelle Tempo der Mittelsätze wirken die Konzerte wie aus einem Guss.

Von dieser kontroversen Diskussion um die Aufnahme mit Martin Stadtfeld und dem NDR Sinfonieorchester unter der Leitung von Bruno Weil erfahren wir auf NDR Kultur gar nichts. Lobhudelei und Fehlurteil - ein krasser Fall dafür, dass Werbung das Programm inhaltlich bestimmt. Aber als Geschmacksfrage darf man das natürlich nicht so eng sehen...

Alternativen? Zum Beispiel Piotr Anderszewski (Klavier):
Er spielt mit dem NDR, NDR Kultur sendet ihn aber nicht

Alternativen? Die bekannten früheren Aufnahmen.

Noch nicht einmal Mozart-Klavierkonzerte mit Piotr Anderszewski werden gesendet. Mit ihm gab es auf NDR Kultur seit Mai 2004 - so weit reicht unsere Dokumentation - nur folgende Sendungen: eine „Hörprobe“ am 23. August 2004: Klavierrecital mit Piotr Anderszewski und in letzter Zeit 3 Mazurken von Frédéric Chopin.

Das ist umso unverständlicher, als Piotr Anderszewski am 4., 5. und 6. September 2005 in Hamburg zusammen mit dem NDR Sinfonieorchester unter der Leitung von Christoph von Dohnányi im Konzert auftrat - und das Mozart-Klavierkonzert d-moll KV 466 spielte! Davon ist beim Sendeplan von NDR Kultur - vielleicht außer den Mazurken - nicht, nichts angekommen. Der einzige NDR-Internet-Beleg für das Konzert ist der große allgemeine NDR-Konzert-Katalog, wo zu ihm steht:

In jedem Konzert wirkt ein Solist mit, der im heutigen internationalen Musikleben Trends und Maßstäbe setzt: Der polnische Pianist Piotr Anderszewski ließ durch seine Deutungen des Kernrepertoires (Bach, Mozart, Beethoven) und der Moderne aufhorchen...

Zu zwei Mozart-Klavierkonzerten mit ihm heißt es in einer Kritik von Matthias Reisner im „Rondomagazin“ (Februar 2002):

(...) sind diese Aufnahmen ungewöhnlich, interessant und spannend wie selten eine Neuerscheinung aus dem Repertoire der großen Allzeit-Favoriten.
(...) das C-Dur-Konzert ist ergreifend: Solist und Orchester finden in einer majestätischen Haltung in Klang, Tempo und Bewegung zusammen. Anderszewskis Kadenzen sind schon für sich diese Einspielung wert: ein erfindungsreiches Variieren von Mozarts Themen. Über die pianistischen Qualitäten Anderszewskis muss kaum etwas gesagt werden, so unbeschwert und selbstverständlich klingt bei ihm, was doch wegen seiner Durchsichtigkeit zum pianistisch Schwersten überhaupt gehört.
(...) ohne Übertreibung lässt sich behaupten, dass mit dieser Aufnahme ein Pianist in die Weltklasse vorgestoßen ist.

Junge Stars zum Mozartjahr 2006: Julia Fischer (Violine)

Kurze Zeit nach der CD von Martin Stadtfeld erscheint eine neue CD mit Violinkonzerten Mozarts. Solistin: Julia Fischer.

Die Geschichte ihrer Sendefolgen auf NDR Kultur ist ähnlich wie bei Daniel Müller-Schott und Martin Stadtfeld. Während sie Musikliebhabern schon länger bekannt ist, wird sie vom Sender sträflich vernachlässigt (bis Oktober 2004). Nach spektakulären Erfolgen - Bach-Partiten und russischen Violinkonzerten - kommt sie bei NDR Kultur einseitig und eingeschränkt ins Programm: zwischen dem 8. Oktober 2004 und dem 21. Mai 2005 darf sie den Hörern 7x das „Allegro aperto“ des Mozart-Violinkonzertes KV 219 mit der NDR Radiophilharmonie Hannover unter Oswald Sallaberger vorspielen, außerdem zwei verschiedene Sätze aus der Partita für Violine solo, BWV 1006, von Johann Sebastian Bach und 2x von - wie es in der NDR-Kultur-Musikliste so schön heißt - Alexander Glasunow, „Violinkonzert a-moll op. 82 (Konzert in einem Satz), daraus: Allegro (3. Teil)“...

Inzwischen ist eine Kooperation zwischen der Künstlerin und NDR Kultur unter Dach und Fach: Sie ist die Solistin des Eröffnungskonzertes des Schleswig-Holstein Musik Festivals mit dem NDR Sinfonieorchester am 10. Juli 2005 in Kiel. Die NDR-Kultur-Werbemachine muss jetzt endlich richtig anlaufen.

Es folgen drei nachweisliche Sendungen vor dem Konzert mit dem „Allegro aperto“, einer Bachschen „Gigue“ und dem „Allegro giocoso ma non troppo“, dem 3. Satz des Violinkonzerts von Dvorak und eine groß beworbene, ungewöhnliche Stunde auf „Klassik à la Carte“ am 8. Juli: außer zwei sinfonischen Ecksätzen gibt es 7 ausgewählte Sätze ausnahmslos mit Julia Fischer als Solistin.

Am 19. September dann also die neue CD in der zweifachen „Hörprobe“ auf NDR Kultur. Der Moderator erst kurz vor 15 Uhr, dann in der Vorankündigung und schließlich in der Moderation vor und nach der „Hörprobe“:

In der kommenden Stunde dürfen Sie sich freuen auf einen musikalischen Leckerbissen der Extraklasse hier auf NDR Kultur. Die junge Geigerin Julia Fischer hat erstmals Mozart-Violinkonzerte aufgenommen. Heute ist die CD erschienen, die wir Ihnen nachher vorstellen werden in unserem Programm.
[Musik von Boccherini, Nachrichten etc.]
Im Rahmen des Schleswig-Holstein Musik Festivals hat eine junge Geigerin dieses Jahr dafür gesorgt, dass das Eröffnungskonzert nicht nur beklatscht, sondern bejubelt wurde: Julia Fischer, eines der größten Nachwuchstalente. In einem Monat wird sie den „Echo Klassik“ bekommen für die Konzerteinspielung des Jahres, und heute an diesem Montag, da ist von ihr eine Aufnahme der Mozart-Violinkonzerte 3 und 4 auf den Markt gekommen, Julia Fischers erste Mozart-CD.
[Musik von J.Haydn, dann Chopin]
[Einleitung zur Hörprobe:] Innerhalb der geigenden Zunft da sehen wir viele kometenhafte Aufstiege. Stars werden geboren, vielversprechende Talente immer schneller, immer früher hochgejubelt. Bei Julia Fischer besteht allerdings Grund zu der Hoffnung, dass sie kein Sternchen für nur einen Festivalsommer ist. (...) C.V. hat die CD für uns gehört, die seit heute auf dem Markt ist.
[Hörprobe]
Zunächst einmal sind heute, jetzt, die Konzerte 3 und 4 frisch erschienen bei PentaTone Classics. Und als Kostprobe auf NDR Kultur hören wir Julia Fischer im 4. Violinkonzert D-dur KV 218, hier der zweite Satz Andante Cantabile.
[W.A.Mozart, Violinkonzert D-dur KV 218, daraus: Andante cantabile (2. Satz)]

Auffällig ist, dass der Moderator bei jedem der vier Sprechanlässe keine Gelegenheit auslässt, darauf hinzuweisen, dass diese CD „heute erscheint“ (oder ähnlich).

Die Kritik an ihrem Spiel ist in der Rezenzion positiv, in sonstigen Rezensionen ebenfalls. Hierzu zwei Beispiele. In dem Artikel von Wolfram Goertz in der „ZEIT“ heißt es unter anderem:

Julia Fischer spielt das G-Dur-Konzert KV 216 und das D-Dur-Konzert KV 218 nicht so, als ob sie arbeitet, sie riskiert Hingabe, hält die Dynamik wunderbar variabel, ihre Lerchengeige bleibt nicht an elektrischen Zäunen hängen, und ihre eigenen Kadenzen in beiden Konzerten sind keineswegs frivol, sondern stilistisch auf Augenhöhe. Das Netherlands Chamber Orchestra unter Yakov Kreizberg sitzt leider in einem Bad aus Hall und spielt auch nur zu 95 Prozent präzise.

Interessant - auch wegen der Bemerkung zu unserer nächsten Solistin, Anne-Sophie Mutter, - ist die Rezension von Fridemann Leipold auf der Homepage des Bayerischen Rundfunks:

Die Ambitionen einer Anne-Sophie Mutter, die auch den Mozart-Konzerten mit ihrem leider zum Markenzeichen avancierten süßlich-schmachtenden Vibrato ihren Stempel aufdrückt, liegen der 22-jährigen Münchnerin Julia Fischer fern. (...) Julia Fischers Qualitäten liegen in ihrem absolut unprätentiösen und unverbrauchten Zugang zu Mozarts Musik, sie stellt sich ganz in den Dienst der Sache, sprich: der Partitur. (...) Julia Fischer spürt der Musik Mozarts und ihren Wechselfällen geradezu seismographisch nach. (Das) für Mozart so charakteristische Nebeneinander von Lebenslust und vom Wissen darüber, wie schnell sie vorbei sein kann, ist hier ideal ausgedrückt.

Wer holt uns wieder zurück in die Welt des Show-Business? Eine Moderatorin von NDR Kultur. Einzelsätze aus der neuen CD werden zwischen dem 14. September und dem 2. Oktober 14x gesendet. Am 29. September 2005 um 8.15 und 8.23 Uhr mit folgender Inszenierung:

Um Julia Fischer erleben zu können, müssen Sie entweder zu ihrem nächsten Konzerttermin nach New York fliegen oder jetzt die Ohren spitzen. Hier kommt ein Satz aus ihrer neuesten CD.
[W.A.Mozart, Violinkonzert D-dur KV 218, daraus: Rondeau (3. Satz)]
Morgen in der Carnegie Hall in New York, heute schon ein Gastspiel bei uns: Julia Fischer. Das war aus der neuesten und hochgelobten CD...

Es lebe der alberne Starrummel auf NDR Kultur...

Dann musste NDR Kultur diese Kampagne leider runterfahren, leider. Denn nun trat die Geigendiva selbst auf den Plan: Anne-Sophie Mutter, der ehemalige Karajan-Zögling. Wer wie NDR Kultur das Geschäft betreibt, der muss die Regeln der Konkurrenz achten - Musikalität hin, Musikalität her...

Anne-Sophie Mutter kommt mit einem „Porsche“-Orchester ins Schlingern - nur nicht bei den Moderatoren von NDR Kultur

10. Oktober 2005. Wir fangen mit unserer für die Woche geplanten Aufzeichnung von NDR Kultur an. Und gleich ein Großereignis im Netz. Die Moderatorin, die sich schon am 29. September 2005 so engagiert hat, und die „Hörprobe“:

Sechs Uhr einundfünfzig. Das Mozartjahr steht bevor und damit auch eine Flut neuer Mozart-CDs. Wir stellen Ihnen eine Aufnahme vor, die aus der Flut schon jetzt herausragt: Anne-Sophie Mutter spielt die Violinkonzerte. Mehr dazu auf NDR Kultur gegen Viertel nach Sieben.
[J.S.Bach, Klavierkonzert E-dur, BWV 1053, daraus: 1. Satz]
...noch fünf Minuten bis zu dem musikalischen Ereignis dieses Morgens, der neuen CD von Anne-Sophie Mutter.
[ohne Ansage: J.C.Bach, Sinfonia concertante Es-dur für Flöte, Oboe, Fagott und Streicher, daraus: Allegro (2. Satz)]
[Einleitung zur Hörprobe:] Es ist sieben Uhr vierzehn. Sie hören NDR Kultur. 2006 ist Mozartjahr. Sein 250. Geburtstag, das wird eine einzige große Feier, auch für den Plattenmarkt. Ob großer oder kleiner Klassikstar, an Mozart kommt keiner vorbei. Auch sie gehört auf jeden Fall zu den ganz großen, Anne-Sophie Mutter. Sie hat die Violinkonzerte neu aufgenommen...
[Hörprobe]
So neu diese CD, dass sie noch gar nicht im Handel ist: Anne-Sophie Mutter und zum ersten Mal unter ihrer Leitung das London Philharmonic Orchestra mit dem ersten Satz aus...

Am Nachmittag ist der Moderator insgesamt zurückhaltender, im Bereich der Musik ist er nicht zuhause. Sein Superlativ in der Ankündigung unter anderem der „Hörprobe“ zu Anne-Sophie Mutters neuen CDs - NDR Kultur kann ohne Superlative nicht leben - ist aber eine erstaunliche Sprachschöpfung:

... der Virtuose muss nicht unbedingt tugendhaft, aber atemberaubend gut sein. Dann kann ich Ihnen eine virtuose Stunde versprechen hier auf NDR Kultur...

Wenn man es genau nimmt und alle Höflich- und Nettigkeiten weglässt, dann sind die neuen Mozart-Violinkonzerte von Anne-Sophie Mutter in der Kritik ziemlich durchgefallen, sie selbst ist aber auf das höchste Treppchen des „Klassik Echo“ gehoben worden (für eine andere Aufnahme...).

Norbert Hornig schreibt im „FONO FORUM“ 11/2005:

Ihre aktuelle Gesamtaufnahme der Konzerte ist von den früheren Interpretationen weit entfernt. Zum Auftakt des Mozart-Jahres 2006 legt Mutter, die das London Philharmonie Orchestra von der Geige aus leitet, eine hoch individualistische Einspielung vor, die nach weiterer Differenzierung strebt. Dies ist nicht der gerundete, goldgerahmte Ton von einst. Hier geht es extremer zu, mit strammen Tempi in den Ecksätzen, breit ausgeführten Mittelsätzen; da gibt es überzeichnendes Non-vibrato und manch unbedachtes Portamento. Konsequent, aber gewiss nicht jedermanns Sache.

Vergleich: Sendungen auf NDR Kultur
mit Julia Fischer und Anne-Sophie Mutter

Aufschlussreich ist ein Vergleich der Zahl der Sendungen zwischen Julia Fischer und Anne-Sophie Mutter seit dem Tag mit „dem musikalischen Ereignis“ der Vorstellung der neuen CDs von Anne-Sophie Mutter (10. Oktober). Dieser Tag selbst war gewissermaßen ihr gewidmet.

DatumJulia FischerAnne-Sophie Mutter
10. Oktober   Mozart Konzert KV 207 Satz 1
Mozart Sinfonia concertante KV 364 Satz 1
Mozart Konzert KV 219 Satz 1
 
 
13. OktoberMozart Konzert KV 216 Satz 1  Beethoven Konzert Satz 3
15. OktoberGlasunow Konzertsatz Teil 3Tschaikowsky Konzert Satz 3
19. Oktober Mozart Konzert KV 216 Satz 1
Mozart Sinfonia concertante KV 364 Satz 2
20. Oktober Beethoven Romanze G-dur op. 40
21. OktoberMozart Konzert KV 216 Satz 3Vivaldi Jahreszeiten Concerto Winter
22. OktoberMozart Konzert KV 218 Satz 3Mozart Konzert KV 219 Satz 3
23. Oktober Mozart Konzert KV 216 Satz 1
25. Oktober Mozart Sinfonia concertante KV 364 Satz 3
26. OktoberMozart Konzert KV 218 Satz 2Beethoven Konzert Satz 3
Tschaikowsky Konzert Satz 3
27. OktoberMozart Konzert-Rondo KV 269 
29. OktoberMozart Konzert KV 218 Satz 1 
30. Oktober Mozart Konzert KV 216 Satz 3 (Ltg.: Karajan)
Mozart Sinfonia concertante KV 364 Satz 1

Bei den neuen Mozart-CD-Einspielungen werden Julia Fischer und Anne-Sophie Mutter gleichmäßig berücksichtigt, NDR Kultur sendet im Schnitt an jedem dritten Tag je einen Satz (6x und 6x). Zusätzlich bleibt der alte Rhythmus für die bisherigen Aufnahmen: Julia Fischer ist selten mit dem 3. Teil des Konzertsatzes von Glasunow (1x), Anne-Sophie Mutter oft mit verschiedenen Einzelsätzen (7x) zu hören.

Missbrauch anderer Musiksätze für die Anne-Sophie-Mutter-Kampagne

Die beiden neuen Einspielungen werden auf NDR Kultur überhaupt nicht verglichen. Und in der Moderation von NDR Kultur gibt es keine Kritik an ihrem Spiel. Star ist Star und damit basta. Es geht sogar soweit, dass alte Aufnahmen mit Anne-Sophie Mutter für die gerade vor der Tür stehende „Echo Klassik“-Preisverleihung, für die neue CD und für ihr zukünftiges Repertoire instrumentalisiert werden.

Moderator 1: Beethoven, „Echo Klassik“ und die neue „La Traviata“-CD, 13. Oktober 2005, 10.17 Uhr:

Ludwig van Beethoven, das war das Rondo seines D-dur-Vilinkonzerts. Kurt Masur dirigierte das New York Philharmonic Orchestra, Solistin war Anne-Sophie Mutter. Am Sonntag bekommt sie - wieder mal kann man sagen - den „Echo Klassik“.
Und diese Auszeichnung für herausragende Klassik-Produktionen des zurückliegenden Jahres, die geht auch an unsere nächsten beiden Künstler. Beide sind Sänger des Jahres: Anna Netrebko, die Märchenprinzessin aus Sankt Petersburg, und Rolando Villazón. Die russische Sopranistin und der mexikanische Tenor stehen nach ihrem Erfolg bei der Salzburger „Traviata“ dann wieder gemeinsam auf der Bühne, am Sonntag.
Aber genau genommen melden sie sich schon vorher zurück, und zwar mit dem Live-Mitschnitt der Salzburger Festspiele. Morgen, da erscheint die „La Traviata“-Gesamtaufnahme, auf die wir sehnsüchtig gewartet haben. Oder haben Sie etwa zu den Glücklichen gezählt, die Karten für Salzburg hatten? Sehen Sie. Eben. Eine Kostprobe dieses Mitschnitts gibt es jetzt auf NDR Kultur.

[Ohne weitere Details: Opernarie.]

Moderator 2: neue Mozart-CDs, Produktionsplan, „Grammy“, zwei „Echo Klassik“-Preise und Tschaikowsky, 15. Oktober 2005, 13.07 Uhr:

Den 250. Geburtstag von Wolfgang Amadeus Mozart feiern wir im nächsten Jahr. Aus diesem Anlass legt Anne-Sophie Mutter drei neue Aufnahmen mit Werken sämtlicher wichtiger Kompositionen Mozarts für Violine vor. Der Auftakt ist bereits erfolgt, denn gestern sind die Violinkonzerte und die Sinfonia concertante mit dem Bratschisten Yuri Bashmet und dem London Philharmonic Orchestra veröffentlicht worden. Einen Dirigenten gibt es hier nicht, die Geigerin selbst führt das Orchester. Und im nächsten Jahr, im Mozartjahr, werden dann die Sonaten folgen mit Lambert Orkis und eine Auswahl von Klaviertrios mit ihrem Mann, mit André Previn, und Daniel Müller-Schott.
Den „Grammy“ hat Anne-Sophie Mutter letztes Jahr schon bekommen, als „Instrumentalistin des Jahres“ und für die „Weltersteinspielung des Jahres“ bekommt sie morgen zwei „Echo Klassik“-Preise. In München wird sie sie bei der großen Gala entgegennehmen.
Wir hören Anne-Sophie Mutter jetzt mit den Wiener Philharmonikern unter André Previn, das Finale aus dem Violinkonzert D-dur von Peter Tschaikowsky.

Was hätte ein Vertreter der Deutschen Grammophon noch mehr sagen können? Dreist - anders kann man es wirklich nicht nennen - wird ein Musikstück von Tschaikowsky für Werbung pur zugunsten der Mozart-Aufnahmen von Anne-Sophie Mutter missbraucht.

Zwei Beispiele für tagsüber vernachlässigte Stars mit Mozart-Violinkonzerten: Baiba Skride und Katrin Scholz

Wer weiß auf NDR Kultur schon etwas über die Mozart-Violinkonzerte von Baiba Skride oder Katrin Scholz?

Die Geigerin Baiba Skride war am 30. August 2004 Gast bei „Klassik à la Carte“, seitdem gab es mit ihr tagsüber nur 3x das „Rondeau“ aus dem Violinkonzert G-dur KV 216. Am Abend ist es ein wenig anders. Die lettische Geigerin Baiba Skride gewann 2001 den 1. Preis des Königin-Elisabeth-Wettbewerbs in Brüssel und macht mit vielen großen Orchestern und Dirigenten Tourneen.

Katrin Scholz wird auch selten, und dann ganz einseitig vorgestellt: 9x wurde zwischen Mitte 2004 und Mitte Oktober 2005 das „Andantino quasi allegretto“, der 2. Satz, des Violinkonzerts Nr. 3 h-moll, op. 61, von Camille Saint-Saëns mit ihr als Solistin gesendet. Das ist sozusagen „ihr“ Satz: sie darf nur diesen Satz spielen, den sonst kein anderer spielen darf. Auch das ist eine Albernheit von NDR Kultur, ein Ergebnis des eingeschränkten Musikpools. Seit 1995 ist Katrin Scholz künstlerische Leiterin des renommierten Kammerorchester Berlin. Die Hochschule für Künste Bremen ernannte sie 1998 zur Professorin.

Und im NDR-Sendegebiet? Gibt es da keine Solisten, die überzeugend und berichtenswert Mozart-Konzerte für Klavier, Violine, Flöte, Oboe, Klarinette, Horn, Fagott und Harfe spielen können?

„Große Stimmen“: Luciano Pavarotti feiert 70. Geburtstag

Die andere Seite des Starkultes: die gestandenen Highlight-Künstler, die sowieso immer wieder im Programm sind.

Zum einen war es der 70. Geburtstag von Luciano Pavarotti. Es gab schon am 6. Oktober 2005 um 20 Uhr die erste Sondersendung „Big P. - Seine Welt, sein Leben“, am 11. Oktober um 21 Uhr in der Reihe „Große Stimmen“ die Sendung „Das Urbild des italienischen Sängers - Luciano Pavarotti“ und schließlich die eigentliche Geburtstagssendung am 13. Oktober um 20 Uhr „Big P. - Seine Welt, sein Leben“.

Es ist ja völlig in Ordnung, den 70. Geburtstag eines verdienten Stars gebührend zu feien, lästig ist es jedoch, wenn die Werbung für diese gut verteilten Sendungen unentwegt das Tagesprogramm unterbrechen - in den bekannten Varianten Werbetrailer und Werbehinweise in der Moderation zu entsprechender Musik. Selbst das ausgedruckte Programm wurde dafür geändert, wie wir es am 6. Oktober auf der Seite „Aktuell“ dokumentiert haben. NDR Kultur quoll also über mit dem Thema Luciano Pavarotti, wir können es wieder ausführlich dokumentieren.

Ein „großer Star der Musik“: Leonard Bernstein

Dann war und ist da auch noch Leonard Bernstein. Man zuckt regelrecht zusammen, wenn NDR Kultur den Werbetrailer dazu in jeder Musiksendung startet. Auf dem bisherigen Sendeplatz von „Oper in einer Stunde“ am Sonntag um 18 Uhr, die 2-wöchig auf den Abend verlegt wurde, gibt es nun die Sendung „Die großen Stars der Musik“. Im September begann es mit einer dreiteiligen Folge zum Pianisten Glenn Gould.

Im Oktober gibt es also regelmäßig: Leonard Bernstein. Die Termine: 9., 16., 23. und 30. Oktober 2005. Die Schwerpunkte lauten: „A Star grew up - Lenny Bernsteins Wurzeln“, „West Side weltweit - Lenny Bernsteins Musiktheater“, „The Joy of Music - Leonard Bernstein als Musikpädagoge“ und „For me every music is serious - Der Dirigent Leonard Bernstein“. Alles wird ununterbrochen während der Woche beworben. Einen Monat lang muss man also diesen Werberummel ertragen, obwohl man sich diesen Sendeplatz so leicht merken kann, wenn es einen interessiert.

Danach ist übrigens Yehudi Menuhin dran - in ebenfalls vier Folgen, machen Sie sich also auf die nächste Werbewelle gefasst.

Wie leicht wäre es, tagsüber statt der wiederholten, unnützen und aufdringlichen Werbung in einer Woche für ein Ereignis eine interessante Sendung zu einem Thema mit der gleichen Gesamtzeit zu machen.

Die Phonoindustrie präsentiert ihre Stars - NDR Kultur ihr ergebener Partner?

Kommen wir endlich zu dem Ereignis, das schon die ganze Zeit im Hintergrund herumspukt: der Deutsche Musikpreis „Echo Klassik“, die Profit-Operation der Phono-Industrie, der die Programmmacher von NDR Kultur so offen zu Diensten stehen.

Der Deutsche Musikpreis „Echo Klassik“ wird von der Phono-Akademie in Berlin getragen, die wiederum eine Einrichtung der Phono-Industrie ist: Im Vorstand sind die Vertreter der Firmen
• edel music AG
• Universal Entertainment GmbH,
• Warner Music Germany GmbH,
• BMG Records GmbH,
• EMI Music Germany GmbH & Co. KG und
• Ministry of Sound versammelt.

Die diesjährige Preisträgerliste ist eine wahre Fundgrube für die Radioprogrammmacher, die mit dem Radio die Sensationen anbieten wollen. Gehen Sie diese Liste einmal in aller Ruhe durch, Sie werden dort sehr viele Interpreten wiederfinden, die Sie auf NDR Kultur oder ähnlichen Sendern immer wieder zu hören bekommen. Hier eine große Auswahl:

• Anna Netrebko (1 - Sängerin des Jahres)
• Rolando Villazón (2 - Sänger des Jahres)
• Emmanuel Pahud, Anne-Sophie Mutter (3 - Instrumentalist/in des Jahres)
• Claudio Abbado (4 - Dirigent des Jahres)
• Nova Stravaganza und Siegbert Rampe, Die 12 Cellisten der Berliner Philharmoniker (5 - Ensemble des Jahres)
• Baiba Skride (7 - Nachwuchs-Künstler/in des Jahres)
• Andreas Scholl (8 - Klassik-ohne-Grenzen)
• Concerto Köln, Nikolaus Harnoncourt und die Wiener Philharmoniker, Esa-Pekka Salonen und das Los Angeles Philharmonic Orchestra (9 - Sinfonische Einspielung des Jahres)
• Nigel Kennedy, Julia Fischer (10 - Konzerteinspielung des Jahres)
• René Jacobs (11 - Operneinspielung des Jahres)
• Yaara Tal und Andreas Groethuysen (13 - Kammermusik-Einspielung des Jahres)
• Martin Stadtfeld (14 - Solistische Einspielung des Jahres)
• noch einmal Anne-Sophie Mutter (17 - Welt-Ersteinspielung des Jahres)
• Carlos Kleiber, Lang Lang (19 - Musik-DVD Produktion des Jahres)
• auch wieder Anna Netrebko (20 - Bestseller des Jahres) und
• Daniel Barenboim (21 - Sonderpreis, Botschafter der Musik).

Dass eine Organistin wie Iveta Apkalna (3 - Instrumentalistin des Jahres) und der Komponist Pierre Boulez (6 - für sein Lebenswerk) auf NDR Kultur wiederum keine Chance haben und vergessen sind, das gehört zu der entgegengesetzten Spielregeln des Senders: keine echte Orgelmusik, keine ernste Musik des 20. Jahrhunderts.

Das ist also - an Spitzenprodukten orientiert - im groben die aktuelle Kampagnenliste zur Förderung des Umsatzes der deutschen Phonoindustrie. Das wird in diesem Bericht ja auch deutlich.

Der heiße Draht zur Plattenindustrie weist den Weg, viele andere Zugänge werden versperrt...

Eine Hörerin von NDR Kultur, deren Kind bei einer der Trägerfirmen der Phono-Akademie Praktikum gemacht hat, erzählte mir vor einigen Tagen, dass ihr die Augen aufgegangen seien, als sie den Praktikumsbericht gelesen hatte:

Es gibt eine ganze Maschinerie in der Plattenindustrie, die dazu benutzt wird, jemanden - auch von 0 auf 100 - in die Charts zu bringen: Anrufe bei den Hörfunkredaktionen, Gratis-Werbe-CDs, Einladung zu Presseauftritten mit Gratis-CDs usw. Ein Künstler, der da nicht mitspielt, hat kaum eine Chance.

Dem entspricht eine andere Meldung, ebenfalls in den letzten Tagen:

Wir wissen vom RBB, dass nach einer Anweisung von Musikchef Dr. Christian Detig die neue CD mit Anne-Sophie Mutter von den Musikplanern „sehr häufig“ eingesetzt werden „muss“, dass sich daraus eine geplante Werbekampagne ergibt. In diesem Sinne soll es pro Monat 6 ausgesuchte CDs geben, die besonders „gefeaturet“ werden.

... ist NDR Kultur die „Geschmackspolizei“ im Norden Deutschlands?

So ähnlich wird es auch in der Praxis von NDR Kultur laufen - nur noch mehr mit dem PC gesteuert und mit einer höheren monatlichen CD-Anzahl als beim RBB.

Offiziell darf NDR Kultur für seine Dienste zugunsten der Plattenindustrie kein Geld nehmen, dann wäre es offensichtliche Schleichwerbung. Aber selbst wenn kein Geld fließt: NDR Kultur unterstützt, ohne darauf angewiesen zu sein, massiv bestimmte Interessen der Plattenindustrie, nach irgendeinem uns noch nicht bekannten Auswahlprinzip. Dafür hat dieser Bericht reichlich Beispiele geliefert.

Diese Dienste für bestimmte Interessen der Plattenindustrie macht NDR Kultur mit seinem Personal, mit unseren Gebührengeldern. Das ist auch ein Skandal!

Und es kommt ein Ergebnis heraus, das uns nicht gefällt: es ist einseitig und marktschreierisch, bisweilen sogar manipulativ, und es gibt uns keine allgemeingültige und fundierte musikalische Orientierung. Von musikalischem Genuss kann sowieso nur in seltenen Fällen die Rede sein.

Vor der Erfindung von NDR-Hörfunkdirektor Gernot Romann, die engagierten Kritiker von NDR Kultur „Kultur-Ayatollahs“ zu diffamieren, hat er sie mehrfach als „Geschmackspolizei“ bezeichnet, weil sie ihm Vorschriften zum Programm machen würden. Ganz abgesehen davon, dass die Hörer keine Entscheidungskompetenz haben und Herr Romann in dieser Frage die exekutive Gewalt hat: Ist nicht derjenige, der die Hörer auf die Wege der Großen der Plattenindustrie leitet und der die Zugänge zu Repertoirevielfalt versperrt, selbst der „Geschmackspolizist“?

begonnen am 19. September 2005, fertiggestellt am 30. Oktober 2005