NDR Kultur: Stilblüte mit dem Super-Superlativ

NDR Kultur, 6. April 2006, ca. 14.15 Uhr, Moderation

Wird der Moderator der Nachmittagssendung
die Grenzen der deutschen Sprache durchbrechen?

Schubert soll seine Sinfonien Nr. 1 bis 4
für „ein gigantisches Orchester“ geschrieben haben

Ist dann die Besetzung der Symphonie fantastique von Hector Berlioz
„super-gigantisch“, von Mahlers 9. Sinfonie „hyper-gigantisch“?

Für den Moderator steht als nächstes Franz Schubert auf dem Sendeplan. Heute hat er sich - er ist ja noch nicht lange bei NDR Kultur dabei - auf Besetzungsfragen spezialisiert. Na los. Wir sind dabei.

Schuberts Sinfonie Nr. 5 sei etwas Besonderes. Während Schubert sich in seinen Sinfonien Nr. 1 bis 4 an Beethoven Sinfonien orientiert habe und für „ein gigantisches Orchester“ geschrieben habe, seien die Sinfonien von Wolfgang Amadeus Mozart Vorbild für seine Sinfonie Nr. 5 gewesen, die Franz Schubert nur für „ein bescheidenes Kammerorchester“ komponiert habe.

Franz Schubert: Der Unterschied zwischen der Sinfonie Nr. 5
und den Sinfonien Nr. 1 bis 4

Der Bärenreiter-Verlag gibt auf einer Seite die Besetzung aller Sinfonien von Franz Schubert an. Zu der im Jahr 1816 komponierten 5. Sinfonie lesen wir:

No. 5 in B-flat major D 485
1,2,0,2 - 2,0,0,0 - Strings / 27'
(A. Feil / D. Woodfull-Harris)

Das heißt für die Besetzung, angegeben sind die Holzbläsergruppe, die Blechbläsergruppe und die Streicher:
1 Flöte
2 Oboen
keine Klarinette
2 Fagotte
2 Hörner
keine Trompete, keine Posaune, keine Tuba
Streicher

Die Besetzung der Sinfonien Nr. 1 bis 3 lautet:

1,2,2,2 - 2,2,0,0 - Timpani - Strings (Nr. 1) bzw. 2,2,2,2 - 2,2,0,0 - Timpani - Strings (Nr. 2 und Nr. 3). Außerdem hat die Sinfonie Nr. 4 nicht nur zwei, sondern sogar vier Hörner-Stimmen

Der in der Moderation angesprochene Unterschied zwischen „einem bescheidenen Kammerorchester“ und „einem gigantischen Orchester“ besteht also im Wesentlichen in sechs zusätzlichen Instrumentalstimmen:

zweite Flötenstimme
2 Klarinetten
2 Trompeten
Pauken

In einem alten Konzertführer von Rudolf Bauer aus dem Jahr 1955 (Safari-Verlag Berlin) wird die kleine Besetzung mit der damaligen Aufführungspraxis erklärt. Neben der Sinfonie Nr. 1 war sie die einzige Sinfonie, die Franz Schubert „selber gehört“ hatte. Und: „Ihre kleine Besetzung (...) deutet an, daß Schubert die Fünfte für ein Liebhaberorchester geschrieben hat.“

Man kann also von „einem bescheidenes Kammerorchester“ sprechen, mit dem „gigantischen Orchester“ liegt der Moderator jedoch völlig daneben.

Die Sinfonien von Ludwig van Beethoven

Beethoven hatte seine 8. Sinfonie 1812 und seine 9. Sinfonie (mit Schlusschor über Friedrich Schillers „Ode an die Freude“) 1823 komponiert. Der Verlag Breitkopf & Härtel veröffentlicht folgende Besetzungen für Beethovens Sinfonien:

1. Sinfonie: 2.2.2.2 - 2.2.0.0 - Pk - Str
2. Sinfonie: 2.2.2.2 - 2.2.0.0 - Pk - Str
3. Sinfonie (Eroica): 2.2.2.2 - 3.2.0.0 - Pk - Str (Änderung: 3 Hörner)
4. Sinfonie: 1.2.2.2 - 2.2.0.0 - Pk - Str (Änderung: 1 Flöte)
5. Sinfonie: Picc.2.2.2.2.KFag - 2.2.3.0 - Pk - Str (Änderung: zusätzlich Piccoloflöte, Kontrafagott, 3 Posaunen)
6. Sinfonie (Pastorale): Picc.2.2.2.2 - 2.2.2.0 - Pk - Str (Änderung: zusätzlich Piccoloflöte, 2 Posaunen)
7. Sinfonie: 2.2.2.2 - 2.2.0.0 - Pk - Str
8. Sinfonie: 2.2.2.2 - 2.2.0.0 - Pk - Str
9. Sinfonie: Soli: SATB - Chor: SATB - Picc.2.2.2.2.KFag. - 4.2.3.0. - Pk.Schl - Str (Änderung: zusätzlich 4 Solisten, 4-stimmigen gemischten Chor, Piccoloflöte, Kontrafagott, 2 Hörner, 3 Posaunen, Schlagzeug)

Symphonie fantastique von Hector Berlioz

Hector Berlioz komponierte 1830 seine Symphonie fantastique nach Informationen des Bärenreiter-Verlags (Schalter „Aufführungsmaterial“) für folgende Besetzung:

2(Picc),2(Eh),2,4 - 4,2,2Pist,3,2Oph,0 - Pk(4), Schlg(3) - 4Hfe - Str

also für:
2 Flöten (2. auch Piccoloflöte)
2 Oboen (2. auch Englischhorn)
2 Klarinetten
4 Fagotte
4 Hörner
2 Trompeten
2 Cornets à pistons
3 Posaunen
2 Ophikleide
2 Paar Pauken mitsamt 1 Große Trommel, 1 Kleine Trommel
1 Becken, 2 Glocken in G und C (alternativ Klaviere) als Schlagzeug
4 Harfen
Streicher (15 Geige 1, 15 Geige 2, 10 Bratschen, 11 Violoncelli, 9 Kontrabässe)

Das ist schon ganz ordentlich, „gigantisch“ ist es aber nicht.

9. Sinfonie von Gustav Mahler

Bei der freien Enzyklopädie Wikipedia steht zur 9. Sinfonie von Gustav Mahler:

„Die Sinfonie Nr. 9 von Gustav Mahler wurde zwischen 1909 und 1910 geschrieben. (...) Sie wurde für ein Orchester geschrieben, das aus
vier Flöten
Piccoloflöte
drei Oboen
Englischhorn
vier Klarinetten
einer Bassklarinette
fünf Fagotten
vier Hörnern
drei Trompeten
drei Posaunen
einer Tuba
Schlagwerk (bestehend u.a. aus Triangel, Tambourin, drei Glocken, Pauken)
zwei Harfen und
Streichern (Violinen, Bratschen, Celli und Kontrabässe) besteht.
(...) Die Premiere des Werkes fand am 26. Juni 1912 in Wien durch die Wiener Philharmoniker unter dem Dirigenten Bruno Walter statt.“

Wenn das Orchester bei Schuberts Sinfonien Nr. 1 bis 4 „gigantisch“ ist, wie will der Moderator die Orchesterbesetzung bei Beethovens 9. Sinfonie oder bei der Symphonie fantastique von Hector Berlioz charakterisieren? Super-gigantisch? Und bei Mahlers 9. Sinfonie? Hyper-gigantisch?

NDR Kultur sollte mal eine Superlativ-Entwöhnungskur durchführen.

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NDR Kultur, 4. April 2006, Moderation

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