Das GANZE Werk - Presseschau

Auf dem Klassik-Kontinent wird es eng

Jimi trifft Alfred: Wie die öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten ihre Kulturwellen reformieren

von Volker Tarnow

Der Erdteil scheint vom Aussterben bedroht: Vorwiegend grauhaarige Geschöpfe hören hier eine Musik, die nicht mehr dem Lebensgefühl unserer Zeit entspricht. Dafür umweht Beethoven & Co. noch immer die Aura des Elitären. Wie klein aber, so fragt man in den von sinkenden Werbeeinnahmen und steigenden Produktionskosten geplagten öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten, wie klein darf eine Minderheit eigentlich werden, um noch als relevant zu gelten? Was tun gegen den Klassikertod?

Die Antwort lautet: Programmreform. Dahinter verbergen sich drei Zauberformeln bzw. Horrovisionen: Demokratisierung, Magazinierung, Entwortung.

Fast alle Programmmacher reden vom „erweiterten Kulturbegriff“. Es geht um die überfällige Neubewertung und Demokratisierung der einzelnen Genres. Die Grenze zwischen guter und schlechter Musik verläuft in der Tat nicht zwischen Gustav Mahler und Jimi Hendrix; sie verläuft zwischen Klassik, Jazz, Rock, vielleicht noch elaboriertem Pop auf der einen und Schlager sowie kommerziellem Crossover-Gekrächze auf der anderen Seite. Wunderbare Freundschaften könnten entstehen: Bekennende Klassizisten erleben plötzlich Tom Waits und Michael Nyman als Offenbarung, Fans von Lenny Kravitz laufen zu Alfred Schnittke über.

Gefahrlos ist diese Programmatik indes nicht. Präsentieren die neuen Magazinformate einen zu bunten Mix, dann endet die schicke Schrankenlosigkeit in heilloser Nivellierung. Divergente Stile wie die zeitgenössische E-Musik werden überhaupt nicht mehr ins Tonbild passen. Die Klassik marschiert geschlossen ins Museum und vergnügt sich dort mit der längst entschlafenen authentischen Volksmusik.

Leider widersetzen sich nicht alle Sender einer solchen Entwicklung. So bietet seit Januar NDR Kultur 14 Stunden täglich Klassik-Charts und Service-Tipps, Buchempfehlungen und News. Eine Steinzeitstrategie, an der bereits der seichte Lifestylsender KlassikRadio scheiterte. Es werden noch manche Wellenreiter baden gehen, die auf der Info-Welle surfen.

Rutschfest und glaubenssicher zeigt sich dagegen der Bayerische Rundfunk. Auch nach der Programmreform vom 1. Juli sprechen Bayern 2 Radio und Bayern 4 Klassik gezielt Hörergruppen an; stromlinienförmige Formate wurden vermieden, Berichte zu Theater, Film und Musik thematisch sogar stärker gebündelt als bisher. Gott mit dir, du Land der Bayern!

Andere Reformer steuern einen populäreren Kurs. Angelika Bierbaum, Wellenchefin beim Hessischen Rundfunk, kündigt für September anspruchsvolle, teils offene, teils spartenspezifische Magazine an. Die Dominanz der Klassik auf hr2 wird beendet. Man hat ja noch hr-Klassik! Von einem „anspruchsvollen Tagesbegleitprogramm“ spricht Hannelore Steer, Hörfunkdirektorin des kürzlich aus SFB und ORB fusionierten Rundfunks Berlin-Brandenburg (RBB); ein gänzlich neu zu schaffendes Programm löst im Dezember RadioKultur und Radio3 ab. „Die klassische Musik bleibt als Markenkern erhalten“, heißt es.

Bei Karl Karst, dem Wellenchef von WDR 3, stößt schon der Begriff „Magazin“ auf Ablehnung. Der Westdeutsche Rundfunk will ohne jede Verflachung seine Modernisierung fortsetzen; mehr Sinnlichkeit, mehr Übersichtlichkeit, Ausweitung der einzelnen Genres, so die Stichworte. „Alle künstlerisch innovativen Formate, die 2001 entwickelt worden sind, bleiben nicht nur erhalten, sondern dienen als Folie für die Weiterentwicklung.“

Und die gefürchtete „Entwortung“? Sie könnte aufwändig erstellte, akademische Skriptsendungen treffen. Die Öffentlich-rechtlichen wollen stärker das frei gesprochene Wort pflegen, den Dialog. Quassel- und Berieselungswellen werden sie deswegen nicht lostreten. Vorerst nicht!

Die Welt, 6. August 2003