Das GANZE Werk - Presseschau

Evangelischer Pressedienst - epd medien Nr. 60 (4. August 2004)

Alles ist gut

Klassik, Claims und Crosspromotion bei NDR Kultur

Leitartikel von Hans-Jürgen Krug

epd Spezielle Reformbemühungen bei den Radioprogrammen galten und gelten den Kulturwellen: so beim HR, WDR, MDR, NDR und RBB. Wir setzen unsere Reihe von Höreindrücken und Wertungen dieser Reformen heute mit Beobachtungen/Anmerkungen von Hans-Jürgen Krug beim/zum Radio-Kulturprogramm des NDR fort (vgl. epd 13-13/04 zum RBB, 20/04 zum MDR und die allgemeinen Bemerkungen zum Kulturradio und zur Radiokultur von Gaby Hartel und Christian Deutschmann in epd 83/03). "Es gibt ein neues, attraktives klassisches Musik- und Kulturangebot im Norden", versprach der Hörfunkdirektor des NDR, Gernot Romann, zum Sendestart von NDR Kultur am 1. Januar 2003: "Ein Programm, das ,Lust auf Klassik' macht und Kultur zum Erlebnis werden lässt."

"Alarmierende und bis dato nie da gewesene Einbußen von Reichweite" (Romann) waren der äußere Grund für die Neugründung dieses Programms. Denn nach seinen Angaben hörten vorher gerade mal 4000 Hörer noch das Kulturprogramm Radio 3 in Hamburg. Inzwischen sind die Quoten laut jüngster Mediaanalyse wieder besser. 28.000 tägliche Hörer hat NDR Kultur heute in Hamburg, insgesamt summiert sich das Tagespublikum jetzt auf 242.000. Doch das Programm ist höchst umstritten - und nun protestieren erstmals auch noch traditionelle Klassikradiohörer und Klassikliebhaber öffentlich.

Im Juni lud die kleine, aber altehrwürdige Hamburger Telemann-Gesellschaft zu einer öffentlichen Diskussionsveranstaltung, in der "Kritik der NDR Kultur" geübt wurde. Es folgten erregte Debatten im Hamburger Feuilleton der "Welt". Der von der Telemann-Gesellschaft gegründete "Initiativkreis das GANZE Werk" forderte in einer Resolution, täglich "zwischen 6 und 19 Uhr mindestens vier Stunden lang Musiksendungen, die Kompositionen von der Renaissance bis zur Gegenwart so weit wie möglich vollständig erklingen lassen". Bereits im Februar hatte der renommierte Kunsthistoriker Werner Hofmann in der "Zeit" geklagt, NDR Kultur höre sich an wie "En-de-er Kultur".

Einst galt vielen NDR 3, der Vorgänger von NDR Kultur, als vorbildlich innerhalb der ARD, doch spätestens seit den 1990er Jahren war der alte Glanz dahin. NDR 3, später Radio 3 wurde (tagsüber) mehr und mehr zur Musikwelle umgebaut, entwortet (wie das hässliche Schlagwort lautet) und ganz gezielt entkulturalisiert.

Laut ARD-Jahrbuch bestanden 2002 gerade mal 9,4 Prozent des Kulturprogramms Radio 3 noch aus "Kultur und Bildung" (1995, bei NDR 3, wurde dieser Anteil mit 15,1 Prozent beziffert, für 2000 wurden 10,3 Prozent genannt): Und damit sendete das Kulturradio zuletzt weniger Wortkultur, weniger Beiträge also aus dem Bereich Kultur/Bildung als die Schlagerwelle NDR 1 Niedersachsen (11,6 Prozent). SWR 2 leistete sich im selben Jahr 40,8 Prozent Kultur und Bildung, Bayern2Radio 31,2 Prozent, WDR 5 20,7 - zudem haben BR und WDR noch Klassikwellen.

Die Hörer machten um Radio 3 einen immer weiteren Bogen. Gerade mal 0,5 Prozent Marktanteil oder 4000 Hörer täglich wurden 2002 in Hamburg noch errechnet, 147.000 im Sendegebiet, deutschlandweit waren es 210.000 (epd 18/04). Angesichts dieser Zahlen wurde man endlich tätig: Wellenchef Wolfgang Knauer leitete die Reform ein (epd 11/03) und ging neun Monate später.

"Seine Reform war Hörfunk-Programmdirektor Gernot Romann und NDR-Intendant Jobst Plog nicht weit genug gegangen, Knauer selbst wollte aber NDR Kultur nicht tiefer legen", interpretierte Karin Franzke im "Hamburger Abendblatt" diesen Weggang. Seit September 2003 ersetzte dann Knauers Nachfolgerin Barbara Mirow - zuvor Nachrichtenchefin bei NDR Info - weitere Einschaltelemente und baute die Klassikwelle bis 19 Uhr zum Formatradio um.

Was also ist das neue NDR Kultur? "NDR Kultur ist das Kulturprogramm des Norddeutschen Rundfunks", antwortet der Hörfunkdirektor Romann gegenüber dem epd auf diese Frage. Und ergänzt: "Programmlicher Schwerpunkt ist die klassische Musik".

Heute ist das Programm in der zuhörerintensivsten Zeit von 6 bis 19 Uhr formatiert. "Klassisch in den Tag" (6.05-9 Uhr), "Matinee" (9.05-13 Uhr) "Klassik à la carte" (13.05-14 Uhr) oder "Klassisch unterwegs" (14.10-19 Uhr) heißen die vier Tagesstrecken - und schon die Titel vermitteln, dass Klassik im Mittelpunkt steht, klassische Klassik. Von Bach über Beethoven, Haydn, Mozart bis zu Schubert werden die unterschiedlichsten Komponisten gespielt, Abbado dirigiert ebenso wie Karajan oder Bernstein - aber keine Einspielung ist länger als fünf Minuten. Selbst die teuren und nach Sender-Selbstaussage besser denn je ausgestatteten NDR-Orchester kommen zeitmäßig nicht besser weg. Auch ihre Einspielungen enden tagsüber nach etwa fünf Minuten. Dafür werden, so die Telemann-Gesellschaft, "einige Sätze als eingeplante Highlights besonders oft gesendet".

Das Formatradio wurde in den Achtzigern zunächst von den Rock-, Pop- und Schlagerwellen etabliert. Diese neuen Radios wählten die Musik so aus, dass sie sich in den Tagesablauf der Hörer schmiegte - und waren mit diesem Begleitziel erfolgreich. Alle hörerreichen Programme sind heute formatiert, jeder junge Hörer wächst mit Formatradio auf. Nur die Kultur- und Klassikwellen begriffen sich bis vor kurzem eher als Einschaltprogramm.

Der NDR hat nun diese Formatradiokonzeption fundamental auch auf sein Kulturprogramm übertragen. Romann ordnet es, so gerade in der "Welt", auch als "Spartenprogramm NDR Kultur" ein. Andere Sender sind bei der Reform ihrer Kulturprogramme der Begleitlinie - die Radio tagesdurchgängig eher als ein Nebenbei-Medium einordnet - in Varianten teilweise gefolgt. In Berlin und in Brandenburg ist diese Umstellung nicht minder umstritten als in Hamburg (epd 15, 12-13/04), die Reform des Kulturradios war das meistdiskutierte Thema (mit weit überwiegender scharfer Kritik) nach der Fusion von ORB und SFB zum neuen RBB.

Entspannter Klangteppich

Klassik ist bei dieser Art von Radio eine Musik wie jede andere, es kommt vor allem darauf an, wie ein Titel klingt, wie er wirkt - und insofern ist NDR Kultur ein ganz normales Begleit- und Formatradio. Pro Stunde werden zwischen sieben und neun Titel gesendet. Morgens dominieren Sinfonie-Ouvertüren, Märsche, Tänze, Adagio, Presto, Prestissimo; gelassener geht's in der "Matinee" zu, meditativ - und dann auch wortfreier - klingt "Klassik unterwegs" aus. Wer das Programm jetzt leiser dreht, sich von Beiträgen und Jingles nicht irritieren lässt, erhält einen entspannten klassischen Klangteppich.

Die Tageszeit bestimmt die Musikfarbe, die Einspielungen und den Rhythmus; das Tagesrepertoire ist fast ausschließlich klassisch, andere Musik kommt bei NDR Kultur nicht vor. Längere Musikstücke oder gar ganze Werke gibt es vor 19 Uhr nicht mehr. Durch das sehr enge Format sind musikalische Überraschungen freilich weitgehend ausgeschlossen - gelingen aber wenigstens gelegentlich, wenn nach dem "CD-Tipp" auch mal etwas von der empfohlenen CD gespielt wird.

Die traditionelle Klassik-Moderation mit Angabe von Komponist, Titel, Mitwirkenden, Tonart und Werkverzeichnis vor und nach den Musikstücken ist bei NDR Kultur zurückgenommen. Mal werden Komponisten und Verzeichnisse genannt, mal folgen die Interpreten erst nachträglich, mal werden sie knapp angekündigt. Etwa so: "Sie hören NDR Kultur am Freitag. Weiter geht's mit Musik von Johann Sebastian Bach" - und es sind gerade diese Überleitungen, die die traditionellen Hörer empören. Die "Initiative das ganze Werk" fordert die "vollständige" Ansage jedes Titels (www.dasganzewerk.de).

Füllen der Programmuhr

Die einst vollmundig angekündigten Premierenbesprechungen am Morgen sind in der Praxis eher belanglos, vorproduziert, steril. NDR Kultur ist eine Welle, in der nicht miteinander gesprochen oder diskutiert wird. Das Programm mutet über weite Strecken an, als werde hier eine enge Programmuhr mit vorgefertigtem Material minutengenau gefüllt. Selbst Uhrzeiten, Claims, Moderationen, Vorankündigungen, Tipps scheinen ihre festen Zeiten zu haben. Verlässlichkeit kann so auch zur reinen Barriere werden.

Da wurde beispielsweise eine Kritik zu "Circus meets Klassik" ("Classic" laut Internet NDR) - einer Roncalli-Gastspielreihe im Hamburger Schauspielhaus - gesendet. Der Beitrag war ganz im Stil der neuen Zeit gearbeitet: Die Autorin blieb mit ihrer Meinung im Hintergrund, dafür kamen Roncalli-Chef Bernhard Paul als Interviewpartner und Zuschauer ("Eine herrliche Stimmung", "einmalig", "hab ich so noch nicht erlebt") zu Wort.

Lob und Selbstbezug

Nach dem Bericht las die Moderatorin die Daten der nächsten Aufführungen vor - und eine Stunde später wurde Paul als Gast in "Klassik à la carte" angekündigt. Lobend war der (mehrfach gesendete) Bericht vom Festival in Montreux, lobend ein Ausstellungsvorbericht aus Völklingen. Alles ist gut bei NDR Kultur - und nichts berührt deshalb wirklich noch und/oder ist wirklich wichtig.

Selbstbezügliches hat in den Wortphasen einen überraschend hohen Stellenwert. "Kultur hat einen Sender" (Werbespot), so wirbt die Welle, und das Programm scheint mitteilen zu wollen: Die Kultur sind wir. Es beginnt mit dem Eindringen von Eigenem in die Nachrichten.

Als am 11. Juli das Schleswig-Holstein Musik Festival (SHMF) eröffnete, war dies ein Nachrichtenthema, natürlich. NDR Kultur aber kündigte seit dem Nachmittag die abendliche Eröffnung des Festivals, dessen Medienpartner der NDR ist, an. Man stellte nicht nur heraus, dass das (im Tagesprogramm kaum noch kenntliche) NDR-Sinfonieorchester das Eröffnungskonzert spiele. Der Sprecher erwähnte die prominenten Ehrengäste Gerhard Schröder, Günter Verheugen und Jiri Grusa - und wies dann (in den Nachrichten) auf die abendliche NDR-Kultur-Übertragung hin. Der Hörer aber fragte sich: Was war das nun? Nachricht? Hofberichterstattung? Crosspromotion?

Die Kultur sind wir

Partneraffin, so würden es Marketingexperten im Jargon sicher nennen, sind nicht nur die Nachrichten, sondern auch Teile des Tagesprogramms. Am 14. Juli etwa wurde in der Tipp-Rubrik "Festival aktuell" (7.35 Uhr) erstmals auf eine Veranstaltung über den im KZ umgebrachten tschechischen Komponisten Viktor Ullmann aufmerksam gemacht, die am Abend mit Udo Samel im Rahmen der SHMF-Reihe "Anbruch 04" stattfinden sollte.

Um 8.15 Uhr folgte der zweite Hinweis, um 10.25 Uhr der dritte, um 10.30 Uhr wurde ein sehr positiver längerer Beitrag zu der Abendveranstaltung gesendet. Interviewpartner war der verantwortliche künstlerische Leiter. Nach 13.05 Uhr wurde dann der Mitwirkende Udo Samel in "Klassik á la carte" befragt.

Diese einstündige Interviewsendung ist formal tatsächlich ein wortreicher Formatbruch, doch de facto finden hier überwiegend anlassgebundene Gespräche statt. Ob Udo Samel, Bernhard Paul, Marcel Marceau oder Mathias Goerne: Eine Veranstaltung ist der Gesprächsanlass, nicht die Person - und das merkt man den oft recht steifen Gesprächen auch an.

Mit dem mittäglichen Samel-Gespräch freilich waren die Bezüge zum Medienpartner SHMF noch längst nicht beendet. Mal waren Knabenchöre ein Thema - und siehe da: am Abend trat ein solcher Klangkörper beim SHMF in Plön auf. Dann wurde "Die Moldau" gespielt, Tschechien sei ja - wie der Moderator eigens mitteilte - SHMF-Schwerpunkt.

Schließlich kam auch das Rätsel am SHMF nicht vorbei. Fünf Karten zu einer Veranstaltung mit dem Bariton Mathias Goerne (vor Tagen selbst Gast in "Klassik à la carte") gab es zu gewinnen. Goerne, so die Moderatorin, sei "einer der besten Sänger beim SHMF" - und die hörbare Nähe, gibt Insidern schon Anlass für provokante Interventionen.

Joachim Mischke, dem ehemaliger Feuilleton-Chef im "Hamburger Abendblatt", "drängt" sich angesichts der Nähe der Medienpartner NDR und SHMF inzwischen schon "die Frage auf", ob "eine unabhängige und gegebenenfalls kritische Festival-Berichterstattung für den öffentlich-rechtlichen Sender noch möglich ist".

Dieses sich durchs Programm ziehende querverweisende Werbenetz beschränkt sich keineswegs auf das SHMF. Auf einen Bericht über die "Last Night of the Proms" folgte die Ankündigung einer "KlassikClub"-Reise (zum Preis von 1795 Euro laut Internetangabe) zu der Abschlussveranstaltung nach London, einschließlich Begrüßung durch "Adels-Spezialist" Rolf Seelmann-Eggebert.

Kulturjournalismus oder PR?

Die Grenzen zwischen Kulturjournalismus und PR, Relevantem und Eigenem, Musikalischem und Marketing werden bei solchen Kombinationen undeutlich. Warum sind die "Proms" so wichtig? Etwa weil eine Reise zu vermarkten ist? Glücklich macht diese Nähe von Beiträgen, Tipps, Veranstaltungshinweisen, Gesprächspartnern rund um eine Veranstaltung nicht. "NDR Kultur setzt eigene Themenschwerpunkte", formuliert der Programmdirektor den Anspruch, und das gelte "insbesondere für Ereignisse aus dem Musikleben".

Werbende und empfehlende Wortbeiträge prägen das neue Profil von NDR Kultur. Berichte über musikalische Themen überwiegen, Jahrestage und Geburtstage werden inflationär berücksichtigt. Buchbesprechungen bestehen inzwischen zu einem guten Teil aus vorgelesenem Textpassagen. "Im Grunde", so zitierte die "Hannoversche Allgemeine Zeitung" einen frustrierten Mitarbeiter, "kann ich nur noch den Waschzettel wiedergeben".

NDR Kultur wiederholt und wiederholt und macht das Themenspektrum unnötig eng. Die Völklinger Ausstellung über Inkagold ist so ein Beispiel. Mindestens sechs Mal durfte Jürgen Werth (in verschiedenen Längen) aus dem Saarland berichten. Der erste Vorbericht war um 6.45 Uhr, dann nahm sich "Aktuell" (12.05 Uhr und 14.05 Uhr) der Ausstellung an, nachmittags wanderte das Thema - groß vorangekündigt - in "Focus Kultur" (16.30 Uhr) und wurde dann im "Journal" (19.05 Uhr) quasi beerdigt. Die Ausstellung war zu dem Zeitpunkt noch nicht mal eröffnet.

Die Moderatoren beschränken sich (oder müssen sie es?) nachmittags über weite Strecken darauf, den "Focus Kultur"-Beitrag zur halben Stunde voranzukündigen. Es gibt Sendetage, an denen zwei Mal (vor den Nachrichten und eine Viertelstunde später noch einmal) auf die zwei- bis dreiminütige Rubrik mit Literaturtipps, CD-Empfehlungen oder Vorberichten verwiesen wird. Gerne veranstaltet man auch Rätsel. "In welcher Stadt arbeitet Elisabeth Fassbender als Intendantin? In Wien, Salzburg oder in Innsbruck?" hieß es an einem Tag, und es gab auch eine richtige Antwort (Innsbruck), "obwohl die Frage heute schon ein bisschen schwer war". Der Moderator aber schaffte es spielend - fast wie seine Kollegen bei 9Live -, mit der einen Frage eine halbe Stunde zu füllen. Damit steigt zwar der Wortanteil von NDR Kultur. Doch ist das noch Kulturradio?

Mehrfach täglich wird die Rubrik "Festival Aktuell" (sie endet gelegentlich mit dem sinnigen Slogan: "Die Festivals im Norden präsentiert von NDR Kultur. Dank Ihrer Gebühren!") gesendet. Mehrfach wurde der Hinweis verbreitet: "Carl Maria von Weber, Puccini, Tschaikowski: Höchst unterschiedliche Musik harmonisch vereint, aufgeführt in einem idyllisch gelegenen Pavillon: Dafür fährt man auch gern mal über die Grenze ins holländische Groningen. Wer etwas mehr Zeit mitbringt, kann außerdem ein kulinarisches Rahmenprogramm genießen". Aber vielleicht stellt sich dabei gleich die Frage, ob man unterwegs weiterhin "Klassikradio" hören will.

NDR Kultur noch nicht etabliert

Es ist kein Wunder, dass sich der Name NDR Kultur auch nach anderthalb Jahren noch nicht etabliert hat, noch immer firmiert die Welle unter "N 3", "NDR 3" oder sogar unter "Klassikradio" - und so vergrault man mit den so genannten Claims weitere Hörer.

Bis zu zwölf Mal fällt innerhalb einer Stunde der Name NDR Kultur. "Wir können sehr gut nachvollziehen, dass Sie sich gestört fühlen", schrieb ein hochrangiger NDR-Mitarbeiter kürzlich mitfühlend einem Hörer. Doch schob er begründend nach: "Den Namen des Programms bekannt zu machen, hat sich als dringend nötig erwiesen, da es nur dann bei den regelmäßig stattfindenden Meinungsumfragen richtig genannt und somit in Bezug auf seine Hörerzahl korrekt gemessen werden kann." Ermittelt wird bei diesen Meinungsumfragen etwa, ob ein Hörer das betreffende Programm am Vortag gehört hat, "und sei es auch nur für ein paar Minuten", wie das ARD-Jahrbuch diese Methode kennzeichnet.

"Schön, dass Sie dabei sind" oder "Für Sie am Mikrofon", das ist der neue weiche Moderationsstil von NDR Kultur. Die anspruchsvolle Wortkultur wirkt in diesem Umfeld gettoisiert - und wird hier auf Dauer kaum überlebensfähig sein. Noch ist der (inhaltlich und formal doch in die Jahre gekommene) Formatbruch "Am Morgen vorgelesen" im Programm, doch die Zahl der Hörer scheint zu schwinden.

Das abendliche Kulturmagazin "Journal" um 19.05 Uhr leidet angesichts des knappwortigen Umfeldes an Akzeptanzproblemen und steht unter enormem Druck. Die Redaktionen in Hamburg und Hannover rangeln um Zuständigkeiten, manchem im Haus gilt Hannover inzwischen als degradiert. Die aktuelle Kulturberichterstattung ist tagsüber in fünfminütige Kästchen nach den Nachrichten (12.05, 14.05, 16.05, 18.05 Uhr) gepresst: drei Beiträge hintereinander, knapp anmoderiert, die häufig auch mehrfach ausgestrahlt werden - das ist gehetzte Info-Kultur.

Nicht nur die Wortkultur, auch der Abend bei NDR Kultur steht längst unter mächtigem Druck, auch wenn die Verweise auf das Begleitprogramm tagsüber und das Einschaltprogramm am Abend dies verneinen. Während der "Internationalen Musikfestspiele" (18. Juli bis 11. September) gibt es auf NDR Kultur keine Hörspiele, kein Literaturfeature, keine Lesung aus dem Funkhaus, keine Autorendebatte.

Abendliche Formatfortsetzungen

Das schon sehr schmale Wortprogramm wird abends (bis auf "Am Abend vorgelesen" um 22.30 Uhr) auf Null gefahren - und schon heute wirkt das abendliche Einschaltprogramm gelegentlich wie eine Fortsetzung des Formatprogramms. Am 14. Juli etwa. Da wurde um 21.05 Uhr - und damit in der eigentlich formatfreien Einschaltzeit - die "Neue Musikszene" ausgestrahlt. Der einstündige Veranstaltungskalender hatte nur ein Thema: "Anbruch 04", die Veranstaltung im Rahmen der SHMF, welche den ganzen Tag über schon mehrfach "beworben" worden war.

"Flachgelegtes Kulturprogramm"

Wieder wurde nur der künstlerische Leiter interviewt, knappe, manchmal nur zweiminütige Musikauszüge wurden angespielt und immer wieder wurde penetrant auf das Festival, den Veranstaltungstag und den Veranstaltungsort verwiesen. Neutrale Stimmen gab es nicht, dafür plattes Vorablob. Das passt wenig zur Selbstanpreisung: "Das Programm ist extrem vielfältig, wer will, kann eine Entdeckung nach der anderen machen".

"Der reformierte NDR", schrieb die "Zeit", "hat sein Ansehen im Kulturmilieu steil nach unten reguliert". Tatsächlich haben die jüngsten, still umgesetzten Reformschritte an der Richtung nichts geändert. Die Welle hat folglich eine desaströse Presse: "Das flachgelegte Kulturprogramm" titelte die "Hannoversche Allgemeine Zeitung", "Radio zum gepflegten Weghören" die "Welt", "Radiokultur light" die "Zeit" - und auch im Haus schütteln nicht wenige irritiert die Köpfe.

Versuche des Redakteursausschusses allerdings, Radiokultur endlich auch zum hausinternen Thema zu machen, brachten bisher keine hörbaren Resultate. Und der NDR-Programmausschuss lässt NDR Kultur gegenwärtig gewähren. Bisher habe man sich mit dem neuen Profil "noch nicht intensiv" befasst, so NDR-Programmausschuss-Vorsitzender Ulf Birch (DGB Niedersachsen-Bremen), "wir hören es uns erst eine gewisse Zeit an". Im Herbst/Winter 2004 stehe diese Beratung dann ins Haus.

Wie groß die Verärgerung gerade bei den engagiertesten NDR-Kultur-Hörern ist, zeigt sich bei den Mitgliederzahlen des NDR Kultur KlassikClubs. Dort hatten sich bis zum Jahr 2000 in fünf Jahren 9.000 Mitglieder versammelt - und sind nach der Reform rapide gefallen. "Es hat Austritte gegeben", bestätigt man inzwischen auch im NDR und nennt einen aktuellen Mitgliederstand von 7600.

Doch das Problem liegt nicht nur bei NDR Kultur. Es liegt viel tiefer: in der Positionierung der NDR-Radioprogramme. Wenn NDR Kultur nur das zusätzliche Klassikprogramm des NDR wäre: Vieles wäre leichter. Doch NDR Kultur ist eben das Kulturprogramm des Norddeutschen Rundfunks. Es gibt kein anderes - und darin unterscheidet sich die Situation in Norddeutschland von der im Süden oder Westen.

Romann: "100 Prozent Kultur"

Woanders geht es folglich auch reichhaltiger zu. So hat der WDR im zweiten Halbjahr 2004 mehr als fünf Dutzend eigene Hörspiel-Ursendungen im Programm, der NDR gerade mal 13. Doch das ist ohnehin schon fast ein Randbereich - und man darf gespannt sein, wohin das Nachdenken über neue Formen und Formate im Norden "angesichts der veränderten Programmprofile der Kulturprogramme" (so die ARD in ihrer Begründung zum veränderten Engagement zur "Woche des Hörspiels" in Berlin) führen wird.

Dass man Kulturprogramme anspruchsvoll und populär, traditionell und innovativ, klassisch und vielfältig gestalten kann, führt WDR 3 vor. Doch wer heute in Norddeutschland (nicht nur tagsüber) vielfältige und auch mal überraschende Kulturangebote hören will, schaltet den Deutschlandfunk oder DeutschlandRadio Berlin ein.

Dass die föderalen Kulturangebote durch ein bundesweites Kulturprogramm ersetzt werden könnten, galt lange als Schreckgespenst. Im Norden ist diese Vision für einschaltbewusste Hörer fast schon zur Realität geworden - indem sie sich anderem zuwenden; Gesprächsthemen liefern jedenfalls eher die Programme des DeutschlandRadio.

Dass die Verdrängung des Kulturellen von Klassikfreunden und Akademien heftig kritisiert wird, sollte eigentlich erfreuen. Denn die Reaktionen besagen doch nur, dass das Radio in der Kulturszene noch eine Rolle spielt - und mancher wünscht ihm sogar eine bedeutendere.

Doch bei NDR Kultur ist die Verabschiedung von spezifischen, nachhaltigen Kulturformen ausdrücklich gewollt. Sie ist Hauslinie, trotz öffentlich-rechtlicher Kulturverpflichtung. "Der Kulturanteil auf NDR Kultur kann nicht mehr gesteigert werden", befindet Hörfunkdirektor Romann: "Er liegt bei 100 Prozent". Die Nachrichten, Jingles, Eigenwerbungen, Claims, Veranstaltungstipps, Moderationen, Interviews: Alles ist Kultur.

Die Initiative "Das GANZE Werk", die sich auf den öffentlich-rechtlichen Kulturauftrag beruft, wird einen langen Atem haben müssen, wenn sie tagsüber wieder ganze Werke auf NDR Kultur hören will. Nicht nur, weil sich Hörgewohnheiten und Radiokonzepte in den letzten Jahren an vielen Stellen verändert haben. Sondern vor allem, weil ihre Forderung als absolut minderheitsbezogen abgetan wird.

Die dortige Vorstellung sei "Fiktion", sagt NDR-Hörfunkdirektor Romann. Seine Begründung: Dem Initiativkreis gehörten, so weit er wisse, 50 Mitglieder an, während NDR Kultur regelmäßig rund 200.000 Menschen einschalteten. Womit diese Hörer signalisierten, "dass ihnen das Programm gefällt".

Veröffentlicht mit freundlicher Genehmigung von epd Medien - Verkauf

Siehe auch:
Gegendarstellung des NDR
Das GANZE Werk meint: juristisch vielleicht eine Glanzleistung, inhaltlich allerdings ohne Bedeutung.

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