Musikauswahl auf kulturradiorbb

kulturradiorbb, November und Dezember 2008

Ein Kultursender wählt die gespielte Musik nicht nach musikalischen Gesichtspunkten aus, sondern nur nach formalen Überlegungen

Johannes Brahms: Gibt es nur 3. Sätze?!

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Von Jürgen Thomas

Vor kurzem hatte ich das Gefühl, dass das kulturradiorbb in seinem „Tagesbegleitprogramm“ die erste Sinfonie von Johannes Brahms verstärkt berücksichtigt hätte. Ich habe mir deshalb die gesamten Musiklisten, die der RBB im Internet veröffentlicht, genauer durchgelesen und wurde sehr überrascht. Mein Gefühl hatte mich getrogen, aber ich bin zu erstaunlichen Erkenntnissen über die Musikauswahl des RBB gekommen.

Orchesterwerke von Johannes Brahms im „Tagesbegleitprogramm“

Gespielt wurden von allen mehrsätzigen Orchesterwerken die folgenden Ausschnitte:

Werksbezeichnung1. Satz2. Satz3. Satz4. Satz
Klavierkonzert Nr. 1
d-Moll op. 15 (1859)
Maestoso (23:00)Adagio (14:00)Rondo: Allegro
non troppo

(11:30)
-
   01.12.2008 (a)
18.12.2008 (a)
 
 
Sinfonie Nr. 1
c-Moll op. 68 (1876)
Un poco sostenuto - Allegro (17:30)Andante sostenuto (11:00)Un poco Allegretto e grazioso (5:30)Adagio - Più Andante - Allegro non troppo ma con brio - Più Allegro (18:00)
   12.11.2008 (d)
19.11.2008 (d)
02.12.2008 (a)
06.12.2008 (a)
 
 
Sinfonie Nr. 2
D-Dur op. 73 (1877)
Allegro non troppo (20:30)Adagio non troppo (12:00)Allegretto grazioso (5:30)Allegro con spirito (10:00)
   03.12.2008 (d)
10.12.2008 (b)
16.12.2008 (b)
 
05.12.2008 (c)
Violinkonzert D-Dur
op. 77 (1879)
Allegro ma non troppo (23:30)Adagio
(9:30)
Allegro giocoso,
ma non troppo vivace
(8:30)
-
 04.12.2008 (b) 13.11.2008 (a)
22.11.2008 (a)
26.11.2008 (d)
 
 
Klavierkonzert Nr. 2
B-Dur op. 83 (1882)
Allegro non troppo
(19:00)
Allegro appassionato
(9:30)
Andante
(12:00)
Allegretto grazioso
(10:00)
  04.11.2008 (d)
 
  
Sinfonie Nr. 3 F-Dur op. 90 (1884)Allegro con brio (15:30)Andante
(9:30)
Poco allegretto (7:00)Allegro
(9:30)
Gesamtaufnahme am 16.12.2008
als Ergebnis der Klassikbörse

 
  26.11.2008 (a)
11.12.2008 (d)
 
20.11.2008 (b)
01.12.2008 (d)
 
Sinfonie Nr. 4 e-Moll
op. 98 (1886)
Allegro non troppo (13:30)Andante moderato (12:30)Allegro giocoso - Poco meno presto - Tempo I (6:00)Allegro energico e passionato - Più Allegro (11:30)
Der Hit im November  03.11.2008 (a)
11.11.2008 (c)
12.11.2008 (b)
24.11.2008 (a)
27.11.2008 (b)
08.12.2008 (a)
16.12.2008 (a)
 
13.11.2008 (c)
Doppelkonzert für Violine und Violoncello a-Moll
op. 102 (1888)
Allegro (17:00)Andante (7:30)Vivace non troppo - Poco meno allegro - Tempo I (9:00)-
   10.11.2008 (a)
19.11.2008 (d)
27.11.2008 (d)
29.11.2008 (b)
 
 

Außerdem gab es Ausschnitte aus seinen Orchesterserenaden zu hören:

Werksbezeichnung5. Satz6. Satzandere Sätze 
Serenade Nr. 1
D-Dur op. 11
(1860)
-Rondo. Allegro (6:30)Fehlanzeige 
  01.11.2008 (b)
06.11.2008 (d)
27.11.2008 (c)
11.12.2008 (c)
 
  
Serenade Nr. 2
A-Dur op. 16
(1860)
Rondo. Allegro (5:30)-Fehlanzeige 
 19.11.2008 (b)
12.12.2008 (a)
 
   

Quellen
Die Satzbezeichnungen wurden kopiert von Wikipedia: Johannes Brahms.
Die angegebenen Längen der Sätze stammen als circa-Angabe von eigenen CDs.
Die Sendetermine habe ich übernommen nach den Musiklisten des RBB; diese sind für etwa vier Wochen zu finden unter Kulturradio RBB. Auch später können sie noch abgerufen werden, aber das Schema der Dateinamen wurde immer wieder einmal geändert und ist nicht einheitlich; bitte wenden Sie sich bei Interesse an den RBB oder an den Autor dieses Artikels.
a = Kulturradio am Morgen (6.05 bis 9.00 Uhr)
b = Kulturradio am Vormittag (9.05 bis 12.00 Uhr)
c = Kulturradio am Mittag (12.07 bis 14.30 Uhr)
d = Kulturradio am Nachmittag (15.05 bis 18.00 Uhr)

Absurde Überlegungen

Wenn man sich diese Aufstellung genauer anschaut, stellt man verwundert fest: Es wurden (abgesehen von der gesamten Sinfonie Nr. 3 als Ergebnis der Klassikbörse) ausschließlich Sätze gespielt, bei denen „Allegro“ oder „Allegretto“ in der Satzbezeichnung vorkommt. Sätze mit „Andante“ oder „Adagio“ gab es niemals zu hören.

Auch werden offensichtlich kürzere Sätze eindeutig bevorzugt:
- bis zu 6 Minuten Länge 4 Sätze in insgesamt 16 Sendungen
- bis zu 8 Minuten Länge 2 Sätze in insgesamt 6 Sendungen
- bis zu 10 Minuten Länge 5 Sätze in insgesamt 11 Sendungen
- bis zu 20 Minuten Länge 2 Sätze in insgesamt 3 Sendungen
- mit größerer Länge 1 Satz in 1 Sendung

Beim Nachdenken darüber, wie diese Auswahl zustande kommt, gehen einem sehr abstruse Gedanken durch den Kopf:
- Die CD-Produzenten hätten keine Kapazität für ganze Sinfonien.
- Oder Brahms habe überhaupt überwiegend dritte Sätze geschrieben.
- Oder er habe nur Allegro-Sätze für gut befunden und alle anderen für unwichtig erklärt oder vernichtet.
- Oder die Musikwissenschaft habe seinen langsamen Sätzen fehlende Qualität bescheinigt, und der RBB richte sich nach diesen Erkenntnissen.

Aber ein Blick in ein beliebiges CD-Geschäft (nicht nur bei Dussmann, dem einzigen, das das kulturradiorbb kennt) zeigt: Es gibt viele Aufnahmen vollständiger Werke von Brahms; einzelne Sätze sind nur auf „Best Of“-Zusammenstellungen zu finden.

Es gibt also keine musikalischen Erklärungen für das eingeschränkte Musikangebot beim RBB.

Kultur fehlt bei der RBB-Musikauswahl

Tatsächlich hat der RBB ganz profane Gründe für seine Musikauswahl, die nichts mit der Musik, mit Brahms oder kulturellen Ansprüchen zu tun haben. Diese Grundsätze kennt das kulturradiorbb für die Auswahl (laut interner Anweisung, aus der Anfangszeit des Senders):

Musik ist Stimmung, Gestus, Atmosphäre. Musik ist Gefühl. Die musikalische Grundfarbe des Programms ist klassisch. Sie begleitet heiter und auf gehobenem Niveau durch den Tag.

Entscheidend ist die Radiotauglichkeit der Stücke, die die jeweilige Hörsituation berücksichtigt. Nicht zulässig sind demnach Stücke mit leisem Anfang/Ende bzw. solche mit starken Lautstärken- und Instrumentationsschwankungen.

keine Angst vor den Hauptwerken der großen Komponisten („Hits“).

Werke über 8 Minuten müssen einen besonderen Akzeptanzwert haben. (Sprich: gegebenenfalls genehmigt werden...)

Heitere Musik, die bloß nicht zu lang dauern darf – damit will der RBB die geliebten „Nebenbei-Hörer“ an sich binden. Die bewussten „Zu-Hörer“ interessieren ihn nicht. Nur die äußeren Bedingungen der Radiomacher werden bei der Musikauswahl beachtet; die inneren Zusammenhänge von Musik und „Kultur im Radio“ werden abgelehnt.

Diese Art der Programmgestaltung hat die Enquete-Kommission des Deutschen Bundestages in ihrem Schlussbericht (zitiert nach Das Ganze Werk) als problematische „Popularisierung des Kulturangebotes“ kritisiert:

Die Enquete-Kommission (nimmt) auch kritische Stimmen ernst, die vor der Gefahr einer zu starken Popularisierung im Sinne einer Verflachung und Trivialisierung warnen. Das Angenehme, Publikumswirksame droht mitunter das Polarisierende und Irritierende zu verdrängen.

Die sich ausbreitende „Formatierung“ von Sendungen, das heißt das Setzen strengerer Zeitlimits und Vorgaben für die Kombination von Wort- und Musikbeiträgen, ist tendenziell eine Gefahr für Themen und Kulturtraditionen, die in erheblichem Maße auf Geist, Komplexität und Substanz setzen und daher medial nicht so leicht zugänglich gemacht werden können.

Daraus wurde folgende „Handlungsempfehlung“ abgeleitet (wiederum zitiert nach Das Ganze Werk):

5. Die Enquete-Kommission empfiehlt den öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten, Beiträgen zur Kultur in den Hauptprogrammen breiteren Raum einzuräumen, sie stärker in die Hauptsendezeit zu rücken und mehr Möglichkeiten bereitzuhalten, musikalische Werke zusammenhängend darzubieten.

Wie lange müssen wir noch darauf warten, dass sich das kulturradiorbb auf seinen Kulturauftrag besinnt?

Verfasst am 22. Dezember 2008