NDR Kultur - Korrespondenz

Die Postkartenaktion regt
zu einer grundsätzlichen Kritik an NDR Kultur an

Warum wird mir als Zwangsgebührenzahler
der Zugang zu einem niveauvoll und fachlich fundiert moderierten Musikprogramm verwehrt?

28. Oktober 2004: Brief von E. Schrader an G. Romann

E. Schrader
Hamburg, den 28.10.2004

Norddeutscher Rundfunk
Programmdirektor Hörfunk
Herrn
Gernot Romann
Rothenbaumchaussee 132
20149 Hamburg

Sehr geehrter Herr Romann,

seit einigen Monaten hat das ehemalige Radioprogramm NDR III unter dem Namen NDR Kultur eine neue Programmstruktur, und ich nehme an, Sie sind an Reaktionen aus Ihrem Hörerkreis interessiert.

Zunächst zu meiner Person:
Ich bin 55 Jahre alt, selbständiger Architekt, und betrachte mich als kultur- besonders musikinteressierten Zeitgenossen. Ich bin auch ausübender Laienmusiker als Chorsänger in einer Kantorei.
Radio höre ich vorwiegend zwischen 7 und 19 Uhr, meistens im Auto.

Um mein Urteil gleich am Anfang auszusprechen:
Ich bin tief enttäuscht von dieser neuen Programmstruktur und lehne sie ab. Die schlimmste Neuerung ist die Aneinanderreihung einzelner Symphonie- bzw. Sonatensätze, unterbrochen von Jingles, Prominentenwerbeblöcken oder nüchternen An- und Absagen, garniert mit angelesenen Mini-Geschichtchen oder Anekdoten. Warum enthalten Sie dem Hörer vor, den vom Komponisten gewollten spannungsreichen Übergang von einem langsamen, getragenen Mittelsatz zu einem schnelleren Schlusssatz mit zu erleben? Dieser Moment ist doch Teil des Gesamtwerkes! Diese fragwürdige Neuerung fördert dazu noch die in manchen Konzerten, z.B. Schulmusikaufführungen, zu beobachtende Tendenz, dass der nicht so sachkundige Teil der Zuhörer nach einem schwungvoll gespielten ersten Satz begeistert in die Pause hinein applaudiert, zur großen Freude der Künstler und der übrigen Zuhörer. Nur man sollte sich nicht mehr darüber aufregen. Woher sollen sie die Regeln kennen, NDR-Kultur macht es ihnen ja vor!

Sie gehen einen großen Schritt in Richtung kommerzieller Sender à la Klassikradio usw. Ich habe nichts gegen diese Art Radiosender. Sie müssen eine große Hörerzahl aufweisen, um sich über Werbung finanzieren zu können. Dafür müssen sie ein gefälliges, eine möglichst große Zahl Hörer ansprechendes Programm machen. Aber warum schwenken Sie als öffentlich rechtlicher Sender mit einem gesetzlich formulierten Bildungsauftrag auf diese Richtung ein? Warum wird mir als Zwangsgebührenzahler der Zugang zu einem niveauvoll und fachlich fundiert moderierten Musikprogramm verwehrt?

Ich vermisse die musikwissenschaftlich solide und kenntnisreich gestalteten Moderationen von Gabriele Herz-Eichenrode, Wolfgang Sandberger oder Uwe Röhl (er ist jetzt vielleicht wirklich im verdienten Ruhestand). Stattdessen muss ich mir Histörchen und Anekdötchen zwischen auseinander gerissenen Versatzstücken anhören (...).

Ihre neue Musikprogrammstruktur gehorcht zuallererst den Gesetzen der Gefälligkeit und folgt damit den gleichen Maßstäben, mit denen klassische Musik auch als Bestandteil der Radio- und Fernsehwerbung, als Pausenfüller während der Telefonvermittlung oder als Handyklingelton ausgebeutet wird. Es wird dem Publikum die landläufige Vorstellung vermittelt, dass klassische Musik vorwiegend süß, weich, harmonisch und problemlos seicht zu sein hat. Lieber Dur statt Moll. Es ist kein Platz mehr für eine vergleichende Auseinandersetzung zwischen einzelnen Interpreten. Eine herbe Orgelfuge von J. S. Bach, eine Trauerkantate zur Passionszeit, Werke des 20. Jahrhunderts oder gar zeitgenössische Musik finden keinen Platz mehr. Das neue Programm trägt aber den höchst anspruchsvollen Namen „NDR Kultur“. Warum muss jede Programmreform der letzten Jahre und Jahrzehnte ein weiterer Schritt in Richtung Verflachung sein?

Noch eine Frage habe ich am Schluss: Wie entsteht inzwischen Ihr Musikprogramm in dem oben angeführten Zeitraum? Ist es noch eine von Musikredakteuren individuell bearbeitete Planung oder schon ein Ergebnis eines entsprechend programmierten Computers, zu dem Sprecherinnen und Sprecher lediglich An- und Absagen machen?

Ich habe aus Ihrem früheren Radioprogramm eine Menge Anregungen für die Beschäftigung mit für mich neuen Musikstücken erhalten und häufig die entsprechende CD danach gekauft. Nur das ist jetzt Vergangenheit. Wenn ich jetzt Ihr NDR Kulturprogramm einschalte, höre ich zu 90 % Bekanntes und Vertrautes, eben Gefälliges.

Es tut mir sehr leid, Ihnen dieses Urteil schreiben zu müssen. Ich bin ein interessierter Radiohörer geblieben und habe dieses Medium auch bei meinen Kindern immer kräftig gegen das verflachende Fernsehprogramm verteidigt. Aber diese Pseudoreform verdient ihren Namen nicht. Ich habe mich daher auch sehr gefreut, von der Initiative „Das GANZE Werk“ erfahren zu haben, die meine volle Unterstützung erfahren wird.

Mit freundlichen Grüßen
gez. E. Schrader

Kopie: Theodor Clostermann „Das GANZE Werk“

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