NDR Kultur - Korrespondenz

Brief von Margrit Siebert
an den Musikchef von NDR Kultur, Michael Schreiber,
19. Januar 2005

Bei Konzertbesuchern habe ich nur Ablehnung der Häppchenmusik und der ständigen Eigenreklame gefunden

Herrn
Michael Schreiber
Musikchef NDRKultur
Rothenbaumchaussee 132
20149 Hamburg

19. Januar 2005

Sehr geehrter Herr Schreiber,

mein Brief vom 20.10.04 war nicht unsachlich, sondern ironisch gemeint. Sie glauben, NDRKultur trägt nicht zur Verblödung bei. Aber auch nicht zur Vermehrung von Kenntnissen der klassischen Musik und Kultur tagsüber von 9-19 Uhr. Die Musik rauscht an einem vorbei in einzelnen kurzen Sätzen, und das Gerede ist auch nicht von Belang. In jüngster Zeit beklagen auch mehrere öffentliche Personen den Qualitätsverlust im Rundfunk, Politiker und Schriftsteller.

Ich bin der Initiative "Das GANZE Werk" beigetreten, und ich habe auf den Konzertveranstaltungen, bei denen ich die Besucher zu ihrer Ansicht über das Tagesprogramm befragt habe, auf ganzer Linie nur Ablehnung der Häppchenmusik und ständigen Eigenreklame gefunden. Nur 0,5 % der Befragten waren mit der neuen Machart des Senders zufrieden. Wie Sie zu den positiven Ergebnissen kommen, ist mir ein Rätsel.

Auch andere Mitstreiter beklagen die nichtssagenden Antworten von NDRKultur. Er ist ja nicht dumm, sondern geht taktisch vor: Auf keines der Argumente eingehen, allgemein freundliche Briefe schreiben.

Nur bringt das die Sache überhaupt nicht weiter, nichts bewegt sich in Richtung Kompromiß.

Ich erwarte als Gebührenzahlerin, daß der Bildungsauftrag des öffentlich-rechtlichen Senders gewahrt bleibt, insbesondere, daß Kompositionen im allgemeinen ganz gesendet werden, weil sie sonst keinen Sinn ergeben. Sie lesen ja auch nicht nur einzelne Kapitel eines Buches oder schauen sich Bilder in Ausschnitten an. Dabei kritisiere ich insbesondere die Matinee, die in der "Hör Zu" mit "die kleinen und großen Werke des zentralen Repertoires von Barock, Klassik und Romantik, unterhaltsam präsentiert und zusammengestellt nach musikalischen, literarischen oder historischen Themen" angekündigt wird, in Wirklichkeit aber an Zusammenhanglosigkeit nicht mehr zu übertreffen ist. Hier wäre eine Rückkehr zu bewährten Standards dringend erforderlich.

Ich werde nicht aufhören, gegen diese Art von falschverstandener Unterhaltung mit klassischer Musik (möglichst kurz und heiter, was bereits nach einer halben Stunde Anhörens nur langweilig ist) zu opponieren. Man kann Musik auf intelligente und spannende Art und Weise vermitteln und so den Bildungsauftrag mit der Gewinnung neuer Hörerschichten koppeln, so zu erleben bei den Konzerten des Ensemble Resonanz. Dazu bedarf es aber gerade kompetenter Moderatoren, die man nun abgesetzt hat.

Mit freundlichem Gruß     
gez. Margrit Siebert     

P.S.

Die Spannung des Lebens ergibt sich aus der Polarität, dem Wechsel von Freude und Schmerz, in der Musik aus dem Gegensatz von heiteren und getragenen Sätzen, der Verarbeitung von freudigen und ernsten Themen und musikalischen Gedanken. Diese Wahrhaftigkeit zielt ins Herz des Hörers, wenn man das GANZE Werk hört. Ich finde die Programmgestaltung von NDRKultur tagsüber, stundenlang krampfhaft heiter, deshalb schlichtweg falsch und verlogen. Musik benutzt als Stimmenfang für die Quote. Ich weiß mich hierin einig mit Tausenden von Radiohörern, dem überwiegenden Teil des Konzertpublikums und z.B. auch mit Wolfgang Rihm, der auf der Einführungsveranstaltung zum Abo-Konzert am 17.12.04 entsprechende Äußerungen gemacht hat, nämlich daß er den Trend der Sender zur Häppchenmusik mißbilligt.

Und eine letzte Frage: Können wir uns im ganzen norddeutschen Raum keinen einzigen Bildungssender mehr leisten? Armes Deutschland!

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