Praxis von NDR Kultur - Plaudereien im Herbst

NDR Kultur, 10. Oktober 2005, 11 1/2 Stunden abgehört

Moderatorin 1: „Vielleicht fällt der Nebel ja auch aus“
Cervantes: „Nicht beschreib in breitem Schwulst Dinge, die dem Leser wurst“

Klassisch kleinkariert und inkompetent

So verplauderten Moderatoren Musikhäppchen an einem Dienstag

Gehört von Ludolf Baucke

Die Abschnitte
Moderatorin 1 (6 - 8.30 Uhr)
Moderatorin 2 (9 - 13 Uhr)
Moderator 3 (14 - 19 Uhr)
Nachtrag 1: Duftmarken mit Jingle und „NDR Kultur“
Nachtrag 2: Unsere Wetterexpertin im Westen
Nachtrag 3: „Schatzgräber“ - Ehre, wem Ehre gebührt

Ein Dienstag bei NDR Kultur. Der zufällig ausgesuchte 10. Oktober 2005 bescherte in der Tagesstrecke zwischen 6 und 19 Uhr 75 Kompositionshäppchen - die „Musik à la carte“ zwischen 13 und 14 Uhr wurde ausgeklammert. 56 Komponisten wurden zitiert, darunter sechsmal Johann Sebastian Bach. Keine Komponistinnen, keine Musik aus Mittelalter, Renaissance, Frühbarock und Moderne, weder Jazz noch außereuropäische Musik. Sollte es unter den umworbenen Hörerinnen und Hörer noch Damen und Herren geben, die in einem Chor singen oder Klavier spielen, mögen diese bitte die öffentlich-rechtliche Kulturstation des Nordens weiträumig umfahren. Sie hätten an diesem Dienstag nur ein einziges Stück für Klavier solo verpaßt, keine A-cappella-Komposition gehört und sich mit drei choristischen Mitwirkungen aus Oper und Oratorium begnügen müssen. Der NDR weiß von CD-Sammlungen der Musikliebhaber. Was soll NDR Kultur fördern?

Alle reden vom Wetter. Wäre doch gelacht, wenn NDR Kultur nicht mithielte. Und zum Besten gegebene Wellness-Tipps dokumentieren den von der Programmleitung favorisierten Servicecharakter. Wir zitieren nachfolgend aus den Plaudereien von Moderatorin 1 (6 - 8.30 Uhr), Moderatorin 2 (9 - 13 Uhr) und Moderator 3 (14 - 19 Uhr).

Moderatorin 1 (6 - 8.30 Uhr)

Pusten wir die Frühnebel beiseite mit ein bisschen rheinischem Frohsinn ... und ich hab mal nachgeschaut, wie sieht das Wetter denn zur Zeit in Köln und Düsseldorf aus, also im Rheinischen? Hm, hm - leicht bewölkt. Da haben wir's im Norden doch besser. Wenn Sie jetzt schon unterwegs sind - es ist zwar noch zappenduster, aber es ist eine sternenklare Nacht, ein sternklarer Morgen - und nach den Frühnebeln gibt's wieder einen Oktobertag mit Pauken und Trompeten.

(um 6.25 Uhr) Die Sonne zeigt sich heute erst ab 20 vor 8, aber bis dahin können wir noch Sternbilder gucken...

(kurz nach 7 Uhr) Herzlich willkommen zu einem Dienstag wie aus dem Bilderbuch...

7.23 Uhr: NDR Kultur an einem fast schon strahlenden Dienstag-Oktobermorgen. Vielleicht fällt der Nebel ja auch aus.

NDR Kultur Dienstagmorgen 7.43 Uhr. Was für ein Bilderbuchherbst nach einem mauen Sommer - das haben wir uns doch wirklich verdient, aber so schlimm scheint der Sommer doch nicht gewesen zu sein. Denn die Winzer jubeln: „2005 wird ein Superjahrgang!“ Und nicht nur das: in Italien revolutioniert zur Zeit ein ehemaliger Rechtsanwalt den Weinmarkt, Carlo Ciniozzi keltert nämlich einen einzigartigen Brunellowein. Was er anders macht als sein Winzerkollegen? Na ja, er hat wetterfeste Lautsprecher in seinen Weinbergen installiert, und mit denen beschallt er seine Trauben - mit Tschaikowsky, um die Vögel zu verjagen, und mit Mozart für den vollmundigen Geschmack, und das Erstaunliche: es funktioniert wirklich. Darauf stoßen wir an mit den London Mozart Players.

8.10 Uhr: Edvard Grieg an diesem goldigen Oktobermorgen...

Moderatorin 2 (9 - 13 Uhr)

(ca. 9.15 Uhr) Gold'ner Oktober - endlich weiß auch der Norden, was das bedeuten kann: bunte Blätter, Sonne und noch traumhafte Temperaturen. Schöner geht's eigentlich gar nicht - genießen Sie diesen wunderbaren Dienstag jetzt mit Musik von Ludwig van Beethoven.

(10.05 Uhr) Einen sonnigen Dienstag wünscht [Moderatorin 2].

(Kurz vor 13 Uhr) Ich wünsche Ihnen weiterhin einen wunderschön sonnigen Dienstag.

Moderator 3 (14 - 19 Uhr)

(ca. 14.10 Uhr) Mit dieser Sinfonie Nr.3 C-Dur von William Boyce, die Trevor Pinnock's English Concert uns da vorgespielt hat, mit diesem Kunstwerk begrüße ich Sie zu „Klassisch unterwegs“ an diesem 11.Oktober, was ja ohnehin ein großer Tag des Kunstwerks und der Künstler ist. Spanien feiert schon seit Monaten auf diesen Tag hin, und mit welchem Recht es das tut, das ist ja kaum zu sagen an diesem Tag, an dem vor 400 Jahren der „Don Quichotte“ erschien - höchstens zu sagen mit den Worten des Dichters selbst. Michael de Cervantes: „Nicht beschreib in breitem Schwulst Dinge, die dem Leser wurst. Dem schlägt man auf die Kapuze, der zu breit macht sich mit Witze.“ Weniger salbadern, dafür mehr zuhören in dieser Stunde auf NDR Kultur, unter anderem der Musik von Max Bruch, Giacchino Rossini, Ludwig van Beethoven und jetzt von Christoph Willibald Gluck...

Das war die Academy of Ancient Music unter Christopher Hogwood beim „Tanz der Furien“ aus Christoph Willibald Glucks Oper „Orpheus und Eurydike“, ein kleiner Blick in die Unterwelt, der aber erstmal genügen soll, vorläufig jedenfalls. Dem Himmel könnten wir näher kommen, wenn wir in Leipzig vorbeischauen und vorbeihören. Das Gewandhaus-Orchester in diesem Programm.

(ca. 15.05 Uhr) Und damit willkommen zur 2. Stunde „Klassisch unterwegs“ an einem großen Tag. Ein Poet hat Geburtstag, einer der ganz großen des 19. Jahrhunderts würde heute 180, wenn es nur irgendwie möglich wäre: Conrad Ferdinand Meyer, in dessen Balladen und Gedichten immer alles zuckte und rollte und pochte und lärmte. Und deshalb wird in dieser Stunde auf NDR Kultur alles klingen und spielen und trompeten und tanzen in der Musik u.a. von Giacomo Meyerbeer, Francois-Joseph Gossec, Jan Dismas Zelenka und jetzt von Joseph Haydn.

(gegen 17.26 Uhr) NDR Kultur - das ist der Sender, auf dem Sie gleich erfahren, wie Sie nach einer durchzechten und durchwachten Nacht trotzdem noch Freude im Museum haben könnten. Das Londoner Tate Britain hat es sich jedenfalls vorgenommen, das möglich zu machen. Mehr dazu gleich nach britischer Musik von Samuel Wesley.

(gegen 17.30 Uhr) Die London Mozart Players unter Matthias Bamert spielten den 4. Satz der Sinfonie B-Dur von Samuel Wesley hier auf NDR Kultur um Halbsechs. Die eine sagt:
- Ach nee, heute nicht, weißt Du, ich hab so'n bisschen Kopfweh.
Und der andere sagt:
- O Liebling, Du bist für mich das größte Kunstwerk. Da muss ich doch nicht ins Museum.
Aber solche Ausreden können Museumsmuffel jetzt ganz schnell vergessen - in London jedenfalls. Das Tate Britain Museum bietet seit einigen Tagen Themenrundgänge an, und die richten sich ganz nach der Stimmung oder der körperlichen Verfassung des Besuchers, der ja vielleicht verliebt ist oder geschwächt und deshalb eine ganz eigene museale Behandlung benötigt. Unser Reporter Tobias Armbrüster hat so einen Rundgang mitgemacht.

(kurz vor 18 Uhr) Der Nachmittag geht zu Ende, der Abend kommt, und mit ihm kommen die 18 Uhr-Nachrichten nach dem 3. Satz der Orchestersuite Nr. 3 G-Dur, dem Opus 55 von Peter Tschaikowsky.

Nachtrag 1: Duftmarken mit Jingle und „NDR Kultur“

Der NDR-Kultur-Jingle ist als Duftmarke unverzichtbar. Er wurde insgesamt 52mal gespielt. Nicht genug damit. Das Moderatorenteam hielt mit. Es nannte den Namen „NDR Kultur“ 61mal - dies freilich in auffälliger Nuancierung. Während Moderatorin 1 mit 14 Nennungen in zweieinhalb Stunden den mittleren Standard setzte, beschied sich Moderatorin 2 in vier Stunden auf ebenfalls 14 Nennungen. Nach dem Maß von Moderatorin 1 hätte sie auf 22 Nennungen kommen müssen. Aufs Siegerpodest aber gehörte Moderator 3, der seine fünfstündige Moderation mit 33 Nennungen garnierte. Gratulation!

Nachtrag 2: Unsere Wetterexpertin im Westen

Der Nachbarsender verzichtet in seinem Kulturprogramm WDR 3 nicht nur auf kostenträchtigen Werbeklimbim wie Jingle und Slogan - dabei läge doch „Das Beste im Westen“ auf der Hand. Er vertraut seinen Hörerinnen und Hörern und traut ihnen mehr als der NDR zu, indem er ihnen gestaltete, also themenbezogene Sendungen größeren Formats anbietet. An werktäglichen Nachmittagen sendet WDR 3 fast zweistündige „Musikpassagen“ - etwa am 08.11.2005 zum Thema „Wetter“. Da diese Sendung von Moderatorin 1 gestaltet wurde, sei ihr einleitender Sendetext zitiert.

Ich begrüße Sie heute gewissermaßen als Einwechselspieler von der Ersatzbank. Umständehalber bieten die „Musikpassagen“ heute ein anderes Programm als das angekündigte und ausgedruckte. Wir hoffen auf Ihr Verständnis und natürlich auch darauf, dass Sie mit dem Unvermuteten ebenso vorlieb nehmen, zumal es sich um ein Thema handelt, das uns nun wirklich alle Tage beschäftigt: das Wetter.

„Sonnenschein ist köstlich, Regen erfrischt, Wind kräftigt, Schnee erheitert.“ Das stellte Mitte des 19. Jahrhunderts ein gewisser John Ruskin, englischer Kunstkritiker und Sozialreformer fest, um zu dem Schluss zu gelangen, es gibt kein schlechtes Wetter, nur verschiedene Arten von gutem Wetter. Ulrich Wickert hätte es wohl kaum schöner formulieren können. Der Wetterbericht heute also als Programm. Es donnert, blitzt, stürmt und regnet, es weht, schneit und scheint in den „Musikpassagen“ - und die Vorhersage: eher stürmisch regnerisch. Die Musikmeteorologen raten zu wetterfester Kleidung. Ruhe vor dem Sturm, der dann umso fürchterlicher tobt, Start zu einer außerplanmäßigen „Passage“ der meteorologischen Art.

Es folgte das erste Musikbeispiel von Gluck...

Ihr westlicher Musikstreifzug durchs Wetter war um Längen ergiebiger als ihre nördliche Plauderei. Es geht also kompetenter als von der NDR-Hierarchie bezüglich des Moderatorenteams behauptet und verordnet wird.

Nachtrag 3: „Schatzgräber“ - Ehre, wem Ehre gebührt

Apropos vielbeschworene Kompetenz des Moderatorenteams. Als Moderator 3 am 10. Oktober um ca. 15.45 Uhr ein Musikstück von Zelenka absagte, geschah dies ahnungslos:

Der Dirigent Jürgen Sonnentheil sagt, er verstehe sich als Schatzgräber. Aber Schätze alleine zu finden und vorführbar zu machen, das ist seine Sache nicht. Deshalb hat er sein Neu-Eröffnetes Orchestre gegründet, eine große Schar von Schatzsuchenden, die das Orchesterwerk von Jan Dismas Zelenka ausgegraben hat. Hier war das der 3. Satz aus dem „Concerto à  8 concertanti“ G-Dur auf NDR Kultur.

Von wegen ausgegraben! Bereits im September 1977 wurde das Werk von der Camerata Bern im DRS-Radio-Studio Bern produziert. Die Aufnahme wurde 1978 von der Deutschen Grammophon innerhalb ihrer Archivproduktion auf LPs veröffentlicht und kam im Oktober 1988 als Box mit 3 CDs auf den Markt. Der Moderator hätte sich durch Nachfrage im Schallarchiv kompetent machen können.