Kulturwellen im Nord-Süd-Profil

 NDR Kultur, 7. Mai 2008: Musikauswahl, 11.05 - 12.00 Uhr
11:05 
 
Mozart, Wolfgang Amadeus  
(1756-1791)
Hornkonzert Es-dur, KV 447
 
Allegro (3. Satz)
 
11:08
 
Brahms, Johannes
(1833-1897)
Variationen für Orchester über ein
Thema von Joseph Haydn B-dur, op. 56 a
  
Vollständig
 
11:25
 
Sammartini, Giuseppe
(1693-1751)
Flötenkonzert C-dur
 
Allegro (1. Satz)
 
11:33
 
Brahms, Johannes
 
Klavierkonzert Nr. 1 d-Moll, op. 15
 
Maestoso (1. Satz) 
22 Minuten
11:55
 
Hummel, Johann Nepomuk
(1778-1837)
Sappho von Mitilene (Ballettsuite),
op. 68
Pastorale. Allegro
Vivo (8. Satz)
11:58Brahms, JohannesStändchen, op. 106 Nr. 1 

NDR Kultur, auch kulturradiorbb, 7. Mai 2008, Tagesprogramme

Geschenk an seine Hörer zum 175. Geburtstag von Johannes Brahms:

Die Haydn-Variationen im Tagesprogramm von NDR Kultur!

Beobachtungen zur Musikauswahl von NDR Kultur - kulturradiorbb scheut das Un-„komplexe“ und feiert bei Tageslicht nur minimal

Tagesmusikliste (Pdf) Brahms-Musikliste (Pdf) Artikel speichern/drucken (Pdf)

Von Theodor Clostermann

Vorgeschichte

„Ein Tag mit Bach“, so lautete der Titel einer 18-stündigen Sendefolge, von 6 bis 24 Uhr, die Bayern 4 Klassik am 9. März 2008 ausstrahlte. Vor diesem großen Ereignis schrieben wir:

„...am Ende des roten Fadens um das Werk des Leipziger Thomaskantors dürften sich Genugtuung und Stolz über das Programm und seine engagierten Macher einstellen. Das bayerische Hörfunkevent ist so klug programmiert, dass es schon jetzt neugierig macht. Noch besser wäre es, wenn die bayerische Initiative weit nördlich des Mains Nachahmer fände.
Wie wär's, wenn aus Hamburg zum 175. Geburtstag des Komponisten am 7. Mai ‚Ein Tag mit Brahms‘ gesendet würde?“

Nun, einen „Tag mit Brahms“ gab es bei Bayern 4 Klassik am 11. Mai 2008, wir berichten darüber. Einen Brahmstag-Verschnitt, und zwar der ganz besonderen, noch nie dagewesenen Art, gab es auf NDR Kultur.

Sendezeit en masse: Die Hälfte der Musikzeit für Johannes Brahms,...

Die NDR-Kultur-Programmmacher haben wohl unseren Tipp gelesen - dafür war er ja gedacht - und sich eine Besonderheit ausgedacht: In das 100-Stücke-Tages-Raster (12 ½ Stunden x 8 Stücke pro Stunde) brachten sie besonders viele Brahms-Sätze unter. Nach den Veröffentlichungen im Internet in den vier Tages-Musiklisten bzw. dem durchgehenden Musikticker, die aber unvollständig sind (unter anderem reichen sie nur bis 18.25 Uhr), sind 41 der 94 Stücke aus der Feder von Johannes Brahms.

Gegenüber dem sonst täglichen Musik-Mix fielen uns an diesem Tag drei Vorteile auf:

• Die sonst nur zu oft zu hörenden Märsche und Tänze der populären Klassik wurden, da stilistisch unpassend, auf die „Ungarischen Tänze“ von Brahms reduziert.
• Von Brahms wurde eine Bandbreite seines Schaffens angespielt, die sonst wegen der bestehenden Beschränkungen - zum Beispiel für Kammer- und Vokalmusik - nicht zu hören ist.
• Es wurde Musik gespielt, die wegen ihrer Dauer von mehr als 15 Minuten dem Tageshörer unbekannt bleiben.

Die folgenden beiden Sätze und die Haydn-Variationen waren so gesehen für interessierte Hörer die Highlights des Tages:

 NDR Kultur, 7. Mai 2008: Ungewöhnliches im Tagesprogramm
11:08 
 
Variationen für Orchester über ein Thema von    
Joseph Haydn B-dur, op. 56 a
Vollständig, Dauer ca. 17 Minuten  
 
11:33 Klavierkonzert Nr. 1 d-Moll, op. 151. Satz, Dauer ca. 22 Minuten
15:14 Sinfonie Nr. 1 c-moll, op. 684. Satz, Dauer ca. 18 Minuten

Die Zeit von 11 bis 12 Uhr bot folglich ausnahmsweise nur sechs Stücke.

Die Haydn-Variationen wurden nach unserer intensiven Musikrecherche durch mehr als 6.000 NDR-Kultur-Tagesmusiklisten ein einziges Mal in den letzten vier Jahren ausgewählt: in der Sendung „Klassik à la carte“ am 28. März 2007 mit „Thema und Variationen 1 und 2“, wahrscheinlich auf Wunsch des damaligen Gesprächsgastes Ingo Schulze. Zur ganzen Komposition gehören jedoch weitere sechs Variationen und das Finale.


Auszug aus der Musikliste: NDR Kultur, Klassik à la carte, 28.03.2007 (Word-Dokument)

Der Verfasser hatte damals mitgehört und sich über den plötzlichen Schluss sehr gewundert.

... aber eine unbegreifliche Kompositions-Zerlegung

Nun hatte NDR Kultur nach eigenem Beschluss so viel Zeit, Musik von Brahms zu präsentieren! Da hätten - bis auf die Haydn-Variationen als Sondergeschenk - doch endlich einmal im Tagesprogramm mehrere ganze Kompositionen gebracht werden können, mit passenden und aufmerkenden Werkerklärungen. Aber was machen die Programmmacher? Sie legen die zur Verfügung stehende Zeit mit möglichst vielen verschiedenen Einzelsätzen aus (siehe Tagesmusikliste und Brahms-Musikliste).

• Warum gibt es dann aber noch um 10.21 Uhr und um 14.22 Uhr die Doublette, den 3. Satz des Doppelkonzertes für Violine, Violoncello und Orchester a-moll, op. 102? Wegen verschiedener Interpreten...?

• Und warum gibt es von dem Ungarischen Tanz Nr. 6 Des-/D-Dur, Vivace, um 9 Uhr die Orchesterfassung - der Bearbeiter, es war nicht Johannes Brahms selbst, wird nicht angegeben - und erst acht Stunden später die Originalfassung für Klavier solo? Weil der Zusammenhang nicht verdeutlicht werden soll, oder weil populäre Klassik noch irgendwie dazwischenpasst?

• Statt endlich die halbe Musikzeit für Werktreue auszunutzen, werden sogar fünf Kompositionen willkürlich auseinandergerissen. Wir haben sie in der Brahms-Musikliste rosa markiert:

 NDR Kultur, 7. Mai 2008: Mehrere Sätze aus einem Werk von Brahms
a.  Sinfonie Nr. 1 c-Moll, op. 68 3. Satz um 07.56 Uhr 4. Satz um 15.14 Uhr 
b.Sinfonie Nr. 4 e-moll, op. 982. Satz um 12.48 Uhr1. Satz um 17.18 Uhr
c.Orchester-Serenade Nr. 2 A-dur, op. 16      2. Satz um 08.10 Uhr    5. Satz um 09.40 Uhr  
d.„Ein Deutsches Requiem“, op. 45Nr. 4    um 09.18 UhrNr. 5    um 14.49 Uhr
e.Violoncellosonate Nr. 1 e-moll, op. 382. Satz um 12.36 Uhr3. Satz um 18.04 Uhr

Das andere Extrem: „Komplexe“ Werke am Tage meiden (kulturradiorbb)

Die Verfechter des „Tagesbegleitprogramms“, NDR Kultur und kulturradiorbb, tanzten jedoch am 175. Geburtstag von Brahms erstaunlicherweise auf zwei völlig verschiedenen Feiern.

„Seine Musik steht wie die weniger anderer Komponisten für komplexe Strukturen, komplizierte Verarbeitungstechniken oder konstruierte Entwicklungen. Selbst seine Sinfonien setzen weniger auf rein orchestrale Wirkungen, sondern sind an vielen Stellen kammermusikalisch gearbeitet.“ (Andreas Göbel, „Lieben Sie Brahms?“, Aufsatz zu seinen abendlichen Gedenk-Sendungen in der Woche vom 5. - 11. Mai 2008, 20.04 - 22.00 Uhr, in der kulturradiorbb-Broschüre „Das Programm 05/08“, S. 5).

„Komplex“, das war schon das Zauberwort des NDR in den Jahren 2004 und 2005, warum NDR Kultur Einzelsätze der populären Klassik und nicht ganze Kompositionen senden soll.

Weil die vorwiegend „komplexe“ Musik von Johannes Brahms so „tagesbegleit“-hörerfremd sei, sendete das kulturradiorbb im „Tagesbegleitprogramm“ nur acht Einzelsätze (in zeitlicher Reihenfolge):

 kulturradiorbb, 7. Mai 2008: Mageres Geburtstagsständchen für Brahms
a. Sinfonie Nr. 2 D-Dur, op. 733. Satz: Allegretto grazioso (quasi Andantino)  
b.
 
Klarinettenquintett h-Moll, op.115
 
3. Satz: Andantino - Presto non assai,
ma con sentimento
c.Orchester-Serenade Nr. 2 A-Dur, op. 16    5. Satz: Rondo. Allegro
d.Klavierkonzert No. 2 B-Dur, op. 832. oder 4. Satz (Dauer 9 Minuten)
e.
 
Ballade h-Moll, op. 10 No. 3
(Intermezzo. Allegro)
---
 
f.
 
Sinfonie Nr. 2 D-Dur, op. 73
 
2. Satz: Adagio non troppo - L'istesso tempo,
ma grazioso
g.
 
Ungarischer Tanz Nr. 5 g-Moll
für Klavier zu vier Händen
---
 
h.Orchester-Serenade Nr. 2 A-Dur, op.165. Satz: Rondo. Allegro

Schon bei diesen wenigen Stücken wurde ein Werk, die Sinfonie Nr. 2, op. 73, auseinandergerissen. Die Doublette des 5. Satzes der 2. Orchester-Serenade, op.16, (c. und h.) zeigt, dass den Planern bei der Suche nach un-„komplexen“ populären Sätzen von Johannes Brahms schnell der Stoff ausgegangen ist.

Ganz anders die Erwartung der Hörer. Bei der Klassik-Börse für ein ganzes Werk, die das kulturradiorbb zum Trost für die Hörer einmal vormittags veranstaltet, setzte sich ein Werk von Johannes Brahms gegen zwei Werke anderer Komponisten durch:

Doppelkonzert a-Moll für Violine, Violoncello und Orchester, op.102, mit David Oistrach, Pierre Fournier und dem Philharmonia Orchestraunter der Leitung von Alceo Galliera [1956], Dauer 32:42 Minuten.

So geht es auch. Leider ist dies nur eine werktägliche Alibi-Veranstaltung am Tage.

Ignoriert: „...die für Brahms später so typische dichte thematische Verknüpfung aller Sätze“ (Bayern 4 Klassik)

Wie schwer gerade bei Brahms das Filetieren in zusammenhanglose Einzelsätze wiegt, soll ein kurzes Zitat aus der Sendung „Johannes Brahms, der behutsame Revolutionär“ von Susanne Schmerda auf Bayern 4 Klassik verdeutlichen:

„In der ersten Serenade in D-Dur zeigt sich bereits die für Brahms später so typische dichte thematische Verknüpfung aller Sätze und das zukunftsweisende Kompositionsprinzip der sich entwickelnden Variationen.“ (11. Mai 2008, 19.22 Uhr)

Fazit

So oder so, ob gezielt viele (NDR Kultur) oder gezielt wenig (kulturradiorbb) Brahms-Geburtstagssätze beigesteuert wurden, ob „Elbphilharmonie“-Aktionssprünge am 5. Dezember 2007 oder Karajan-Potpourri am 5. April 2008, beides von NDR Kultur mit verstreut eingeworfenen Zitaten garniert:

„Tagesbegleitprogramm“ und Thementag vertragen sich nicht.

Nicht ohne Grund hat demgegenüber die Enquete-Kommission „Kultur in Deutschland“ des Deutschen Bundestages in ihrer 5. Handlungsempfehlung angemahnt:

Die Enquete-Kommission empfiehlt den öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten, Beiträgen zur Kultur in den Hauptprogrammen breiteren Raum einzuräumen, sie stärker in die Hauptsendezeit zu rücken und mehr Möglichkeiten bereitzuhalten, musikalische Werke zusammenhängend darzubieten.

verfasst am 12. und 13. Mai 2008

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- Erste Sätze waren auffallend oft vertreten. Das war sehr „eigenwillig“, aber nicht „emotional“ und ohne „Liebe“ zum Werk von Johannes Brahms.
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- Mit der schriftlichen Programmankündigung wurden die Hörer in die Irre geführt
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