Das GANZE Werk - Presseschau

DIE WELT, Feuilleton Hamburg, 17. Juni 2004

Der Initiativkreis Das GANZE Werk wird gegründet

NDR-Kultur: Ein Radioprogramm zum gepflegten Weghören

Öffentliches Diskussionsforum zur Kritik am Sender: Hörer beklagen dramatischen Qualitätsverlust, zerstückelte Werke, hemdsärmelige Moderation

Von Lutz Lesle

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„Kultur hat ein Programm: NDR-Kultur. Der Klassiker." Mit diesem Claim empfiehlt sich die Welle, die bis Ende 2002 Radio 3 hieß, fortgesetzt als letzten Schrei. Der artikuliert sich täglich von 6 bis 19 Uhr in folgenden Sequenzen: Klassisch in den Tag (6.05-8.30), Matinee (9.05-13.00), Klassik à la carte (13.05-14.00), klassisch unterwegs (14.10-19.00). Sonnabends leicht variiert mit Belcanto und Klassikboulevard. Die einschaltschwachen Wochenend-Abende gehören mit „Prisma Musik", Konzertmitschnitten und Neue-Musik-Häppchen dem Bildungsradio. Literarische Tageslichtblicke: am Morgen und am Abend vorgelesen.

Dem Tagesprogramm nach zu urteilen verstehen die flotten Radiomacher unter Klassik - sei sie magazin-formatiert, à la carte oder unterwegs - ein Potpourri ausgelassener Kopf- oder Finalsätze, freudehüpfender Scherzi und puppenlustiger Tänze aus dem tantiemefreien Repertoire. Komponisten mehrsätziger Werke haben Pech. Meister, die sich kurz fassen, haben Vorrang. Wer eine barocke Suite oder eine romantische Sinfonie in Gänze hören möchte - und vielleicht etwas Aufschlussreiches dazu erfahren, muss sich bis zum Abend gedulden. Auch wem nach besinnlicher Musik zu Mute ist, was ja tagsüber vorkommen kann, bleibt ausgeschlossen.

Was die Radio-Kultur-Verantwortlichen eigentlich freuen sollte, wurmt sie: dass die Hörerschicht, die man mittels Programmreform abgewählt hat, sich zu kollektivem Widerspruch verbündet. Das öffentliche Diskussionsforum „Kritik an NDR Kultur", zu dem die Hamburger Telemann-Gesellschaft aufgerufen und in die Jugendmusikschule geladen hatte, gab vielen „Hörgeschädigten", darunter etliche enttäuschte Klassik-Club-Mitglieder, erstmals Gelegenheit, ihren Unwillen über zerstückelte Werke, hemdsärmelige Moderation, fehlende An- und schlampige Absagen, oberflächliche Zweieinhalb-Minuten-Wort-Beiträge und verschwiegene Musik des 20. Jahrhunderts miteinander zu erörtern. Leider kamen weder Intendant Jobst Plog noch Wellenchefin Barbara Mirow, beide eingeladen, zum Diskussionsforum. Dabei hätten nicht nur die älteren Herrschaften, die sich ja nicht aus Bosheit, sondern aus enttäuschter Radioliebe aufgemacht hatten, gern einmal erfahren, wie man es im NDR mit Paragraf 1 des Staatsvertrags zum öffentlich-rechtlichen Rundfunk hält und den Begriff „Kultur" überhaupt definiert.

Auch zum Einwand einer Soziologin, die gängigen Ermittlungsmethoden zur Einschaltquote zielten am Stammhörer vorbei, hätte man gern ein Wort „von oben" gehört.

Wer sich über den NDR aufregt, sollte allerdings wissen, dass er als Imitator des privaten Klassikradios nicht allein dasteht (siehe die RBB-Kultur und „Figaro" des MDR). Tagsüber ein „durchhörbares Tagesbegleitprogramm", abends ein „Zuhörerprogramm" - das ist allgemeiner deutscher Hörfunk-Trend, gegen den sich kürzlich schon die Berliner Akademie der Künste mit einer Entschließung zur Wehr setzte. Wie deren Pressesprecher der DiskussionsVersammlung mittelte, glichen die Argumente, die NDR-Intendant Plog dem Vorsitzenden der Telemann-Gesellschaft, Theodor Clostermann, entgegenhält, den Verlautbarungen des der ehemaligen WDR-Intendanten und ARD-Vorsitzenden Fritz Pleitgen fast aufs Wort. Grund genug für die „Telemänner", ein Programmänderungs-Begehren zu verabschieden und einen Initiativkreis „das ganze Werk" zu gründen. Ist doch nicht einzusehen, wieso die ARD für gekürzte Leistungen höhere Gebühren erwartet.

dazu:
2 Leserbriefe vom 24. Juni 2004 („Alternative kommt“, „Einfach schrecklich“)
8 Leserbriefe vom 3. Juli 2004 („Laien ersetzen Profis“, „Nur noch Konserven“, „Hoffnung auf mehr Qualität“, „Kein zweites Klassik Radio“, „Überheblichkeit“, „Verletzung des Staatsvertrags“, „Kulturnation sind andere“, „Ein Schlag ins Gesicht“)
3 Leserbriefe vom 21. Juli 2004 („Komponisten-Missbrauch“, „Gebührensenkung wäre angemessen“, „Ein großes Ärgernis“)