Das GANZE Werk - Presseschau

DIE WELT, Feuilleton Hamburg, 21. Juli 2004

Debatte zu NDR-Kultur

Ein Hörfunkprogramm kann Gegensätze gut nutzen

Von Theodor Clostermann

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Im WELT-Interview mit Lutz Lesle hat NDR-Kultur-Programmchef Gernot Romann endlich einmal Farbe bekannt: "Erreichen möchten wir Hörerinnen und Hörer, die uns bisher nur ausnahmsweise einschalteten: Leute unter fünfzig, die berufstätig sind, mobil, kulturinteressiert nicht im engen Sinn", die "tagsüber im Büro und anderswo" Radio hören.

Nach der ARD-Terminologie gibt es drei Gruppen, die sich für Kultur interessieren: erstens "Klassisch Kulturorientierte" (Hauptaltersspanne 54 bis 70 Jahre, Anteil 14 Prozent), zweitens "Neue Kulturorientierte" (Hauptaltersspanne 24 bis 46 Jahre, Anteil 5 Prozent), drittens "Leistungsorientierte" (Hauptaltersspanne 27 bis 45 Jahre, Anteil 9 Prozent). Für die Kulturprogramme geht es zurzeit um die Frage, wie die älteren "Klassisch Kulturorientierten" zu behandeln sind, wenn man die beiden anderen Zielgruppen erreichen will, die zusammen auch einen Anteil von 14 Prozent haben, die aber jünger und weniger einheitlich sind. Das ist eine spannende Frage: "Wie weit dies jeweils in einem Radioprogramm für Ältere und Jüngere, für Klassisch und Neue Kulturorientierte (ergänzt durch einen Teil der Leistungsorientierten) zu schaffen ist, bleibt dabei eine offene Frage - vielleicht auch für ein Experiment der Radioformate." (ARD-Medienforscher Eckhardt) Für Herrn Romann ist der Fall gelöst: Nur die unter 50-Jährigen, die arbeiten und Geld verdienen, zählen! Alle anderen haben sich gefälligst "nach einer Phase der Umgewöhnung" anzupassen.

Aber warum diese einseitige Entscheidung? Weil der junge Kulturinteressierte von Herrn Romann um- oder ausschaltet, wenn etwas Anspruchsvolleres für "Klassisch Kulturorientierte" kommt? Warum können die Jüngeren zum Beispiel nicht auch auf mehr oder etwas Anspruchvolleres neugierig gemacht werden, Neues entdecken? Tatsache ist, dass das Interesse für Kultur im Durchschnitt mit dem Alter zunimmt und dass die Zahl der Älteren in Deutschland weiter steigt.

Viele bisherige Stammhörer gehören zu denen, die nach einem Arbeitsleben die Zeit der Rente oder Pension in Ruhe genießen wollen, wozu auch das bewusste Hören von Konzerten am Vormittag gehören kann. Ein solches Programm brandmarkt Herr Romann als "elitär". In Wirklichkeit aber ist sein Verhalten elitär. Seine einseitige Entscheidung ist für Hörer ab 50 ein Diktat. Ein vernünftiger Ausgleich zwischen den Zielgruppen kommt ihm überhaupt nicht in den Sinn, obwohl er möglich und vielerorts gängige Praxis ist. Unsere Resolution (ganzer Text: tact.htg@t-online.de) berücksichtigt die verschiedenen Zielgruppen und enthält den Kompromissvorschlag, dass NDR Kultur "täglich zwischen 6 und 19 Uhr mindestens vier Stunden lang Musiksendungen bringt, die Kompositionen soweit wie möglich vollständig erklingen lassen". Einen Einwand zu diesem Vorschlag haben wir bisher nicht gehört. Ich bin der Meinung, dass das neue Rezept der abgespeckten Kultur ein Trugschluss ist, nicht funktionieren kann. Der häufige Hinweis auf einen möglichen "Ausschaltpunkt" ist offensichtlich nur ein ängstlicher Vorwand. Die an Kultur Interessierten hören nicht nur nebenbei oder bewusst zu - es gibt viele Stufen der Aufmerksamkeit.

Die an Kultur Interessierten sind nicht einfältig, kurzatmig und abgestumpft - Interesse und Geschmack sind ausgeprägt und fein entwickelt. Gerade ein Hörfunkprogramm kann Gegensätze gut nutzen: Es kann mit einzelnen Programmbestandteilen unterschiedliche Gruppen ansprechen. Der Hörer mag auch mal um- oder ausschalten. Dramatisch oder tragisch ist das nicht, denn er weiß, wo er Qualität findet. Zum Beispiel bei: "Am Morgen vorgelesen".

Siehe auch Reaktion:
Ein Radioprogramm ist kein Konzertsaal
Vgl. Überarbeiteten Artikel im KlassikClub Magazin 09/2004:
Ein Radioprogramm ist kein Konzertsaal, September 2004