Das GANZE Werk - Presseschau

DIE WELT, Feuilleton Hamburg, 27. Juli 2004

Debatte zu NDR-Kultur - Ein Beitrag vom Programmdirektor Hörfunk des NDR

Ein Radioprogramm ist kein Konzertsaal

Von Gernot Romann

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Glückwunsch zur Illustration der Meinung von Herrn Clostermann! Das Motiv Hund mit Grammofon stammt aus dem Jahre 1900 und beschreibt optimal die Vorstellungen der Telemann-Gesellschaft von einem Radioprogramm. Diese Vorstellung ist mir persönlich keineswegs unsympathisch. Wir haben ja auch erst mit einer gründlichen Reform unseres Klassik- und Kulturangebots begonnen, als sich Programmmacher von NDR Kultur (damals Radio 3) mit alarmierenden und bis dato nie da gewesenen Einbußen von Reichweite konfrontiert sahen.

Der dramatische Hörerverlust in Hamburg von 3,0 Prozent Hörer gestern im Jahre 2001 auf 0,7 Prozent im Jahr 2002 bildete schließlich den Ausgangspunkt für grundlegende Programmanalysen und -überlegungen sowie umfangreiche Medienforschungsaktivitäten.

Der im Rundfunkstaatsvertrag festgelegte Auftrag für das Spartenprogramm NDR Kultur, eine möglichst große Anzahl der Klassik- und Kulturinteressierten anzusprechen und zu bedienen, war mit dem damaligen Programm offenkundig nicht mehr ausreichend zu gewährleisten. In der Folgezeit wurden die Ursachen für den Hörerschwund peu à peu identifiziert und die Erkenntnisse innerhalb der vor zwei Jahren begonnenen Reform umgesetzt.

Auf Grundlage der vielfältigen Forschungsvorhaben hat sich den Verantwortlichen ein sehr klares Bild der potenziellen Hörer und ihrer Bedürfnisse offenbart. Letztere wurden - so die einheitliche Erkenntnis - mit dem Programm der letzten Jahrzehnte" deutlich zu wenig befriedigt. Die im Vorfeld der Reform durchgeführte Musik-Präferenz-Studie und die daran anschließende Publikumsbefragung beweisen eindeutig, dass sich die Erwartungen an ein Qualitätsprogramm wie NDR Kultur deutlich gewandelt haben.

Die veränderten Anforderungen resultieren vor allem aus einer generellen Trendwende in puncto Hörfunknutzung. Das Radio wird - selbst bei der Gruppe der konservativen Hörer - immer stärker vom Einschalt- zum Begleitmedium. Dieser Entwicklung entspricht NDR Kultur mit einer Synthese aus populärer klassischer Musik und interessantem kulturellen Wort. Und trifft damit - wie nicht nur die Vielzahl der Zuschriften, sondern vor allem die Befragungsergebnisse zeigen - sowohl den Geschmack vieler Stammhörer als auch der neuen" NDR Kultur-Klientel. Die Mehrheit dieser Hörer weiß sehr wohl: Ein Radioprogramm ist kein Konzertsaal.

Insgesamt belegt die im Frühsommer 2004 durchgeführte qualitative Studie, dass die aktuellen Modifikationen im Programm von NDR Kultur der richtige Schritt sind: Diese Neuerungen entsprechen mehrheitlich den Hörgewohnheiten und emotionalen Anliegen der Radiohörer und vermitteln diesen mehr Hörer-Nähe".

Die im Vorfeld der Reform unter Federführung von Dr. Josef Eckhardt durchgeführte Musikstudie lieferte eine der zentralen Erkenntnisse für die vorgenommenen Programmveränderungen: Entscheidend für die Zustimmung beziehungsweise die Ablehnung bei den Hörern - sowohl der Stammhörerschaft als auch des potenziellen Publikums - ist eine an der Tageszeit orientierte Musikauswahl. Die Musikpräferenzen aller Befragten unterscheiden sich im Tagesverlauf sehr stark. So werden Werke mit einfacher Struktur oder mittlerer Komplexität gern morgens gehört, während komplexe Musikwerke (Stichwort: elitär!) am Abend als passend im Programm empfunden werden.

Den umfangreichen Erkenntnissen folgend hat sich NDR Kultur in den letzten zwei Jahren als unverwechselbar originelles Kultur- und Klassik-Programm mit intelligentem Anspruch positioniert und orientiert sich in Klang und Anmutung an den heutigen Hörgewohnheiten. Verlässlich und kompetent informiert das Kulturprogramm des NDR wie eh und je über alle kulturell bedeutsamen Ereignisse und unterscheidet sich dadurch nicht nur quantitativ, sondern vor allem qualitativ von der kommerziellen Konkurrenz.

Ziel der gegenwärtigen programmlichen Aktivitäten von NDR Kultur ist also nachweislich nicht - wie von den Vertretern der Telemanngesellschaft fälschlicherweise angenommen - die Fokussierung einer ganz bestimmten neuen", primär jüngeren Zielgruppe oder gar die Diskriminierung der langjährigen und treuen NDR Kultur/Radio 3-Hörer. Im Gegenteil: NDR Kultur verfolgt mit dem neuen Programmangebot einzig und allein die Integration der vielschichtigen Klientel der klassik-und kulturinteressierten Radiohörer und entspricht damit mehr denn je dem viel zitierten öffentlich-rechtlichen Programmauftrag.

Und die gewissenhafte Auseinandersetzung mit dem Publikum und seinen Bedürfnissen hat sich gelohnt: Der Zuspruch für das zeitgemäße Kulturprogramm steigt beständig. Nach der positiven Publikumsbilanz innerhalb der qualitativen Forschung belegt nun auch die aktuelle Media-Analyse, dass der eingeschlagene Weg der richtige ist. NDR Kultur verbessert sich in Hamburg um stattliche 0,8 Prozent und erreicht erstmals seit drei Jahren wieder mehr als zwei Prozent Hörer gestern. Damit hat sich die Anzahl der täglichen Hörer in der Zeit von Juli 2002 bis heute allein in Hamburg von 7.000 auf 28.000 vervierfacht. Bundesweit verzeichnet NDR Kultur einen Anstieg um 36.000 auf insgesamt 242.000 Hörer täglich.

Vgl. Überarbeiteten Artikel im KlassikClub Magazin 09/2004:
Ein Radioprogramm ist kein Konzertsaal, September 2004
Hauptartikel vorher im Feuilleton Hamburg der WELT:
Ein Hörfunkprogramm kann Gegensätze gut nutzen
Leserbriefartikel von Theodor Clostermann zum Romann-Interview, 21. Juli 2004
Nicht warten, bis der Mond aufgeht
Interview von Lutz Lesle mit Programmdirektor Romann, 25. Juni 2004
NDR-Kultur: Ein Radioprogramm zum gepflegten Weghören
Bericht von Lutz Lesle über die Gründungsveranstaltung des Initiativkreises Das GANZE Werk, 17. Juni 2004