Das GANZE Werk - Presseschau

Jürgen Bertram las aus seinem Buch „Mattscheibe“
am Donnerstag, 19. Januar 2006, 19 Uhr

Freie Akademie der Künste
Klosterwall 23 · 20095 Hamburg · Telefon: 040 / 32 46 32
mit anschließender Diskussion, Moderation: Thomas Frickel (AG DOK)
Veranstalter: Die Initiative „Qualität statt Quote“
und ihre Mitveranstalter - AG DOK, Bundesverband Regie (BVR), die Betriebsgruppe Verdi im NDR, Die Initiative Das GANZE Werk

Hamburger Abendblatt, 17. Januar 2006

Interview mit Jürgen Bertram über sein neues Buch „Mattscheibe - Das Ende der Fernsehkultur“

„Zuschauer werden entwöhnt“

Innenperspektive: Kritik an den Mechanismen der ARD.
Jürgen Bertram fordert von Fernsehschaffenden Seriosität, Verläßlichkeit und Kritikfähigkeit.

Von Karin Franzke

HAMBURG - Jürgen Bertram war bis zu seinem (Un-)Ruhestand vor fünf Jahren viele Jahre Korrespondent des NDR, er kennt das öffentlich-rechtliche Fernsehen, ist noch immer ein Verfechter des Systems. Und deshalb wohl besonders enttäuscht von den jüngsten Entwicklungen, die er sich jetzt in seinem Buch „Mattscheibe - Das Ende der Fernsehkultur“ von der Seele geschrieben hat.

ZUR PERSON

Jürgen Bertram bereitet seine nächsten Projekte vor, die nichts mit Fernsehen zu tun haben: Zum einen beschäftigt er sich mit der Renaissance jüdischen Lebens in Deutschland, bedingt durch die Zuwanderung aus dem Osten. Und zum anderen mit dem Heimatbegriff vor dem Hindergrund der Globalisierung, was seiner Meinung nach zu einem neuen, offenen Patriotismus führen könnte.
Ende Februar reist er für sechs Wochen nach Kambodscha, an der Universität von Phnom Penh wurde ein Medienzweig eingerichtet, und dort soll er Fernsehen lehren.
ABENDBLATT: Haben Sie schon Reaktionen von der ARD, vom NDR auf Ihr Buch bekommen?

JÜRGEN BERTRAM: Null Reaktion vom NDR, obwohl ich dorthin ja gute Kontakte hatte und habe, mit Jobst Plog habe ich zum Beispiel das Studio Peking aufgebaut. Und er hat mich nach Kräften gefördert. Aber zu diesem Thema: nichts. Allerdings haben sich sehr viele andere Kollegen gemeldet, alle mit dem Tenor: Das ist die Realität, und es war Zeit, dies auch zu publizieren.

ABENDBLATT: Sie hatten Skrupel, schreiben Sie im Vorwort...

BERTRAM: Ja natürlich, ich bin und bleibe ja ein leidenschaftlicher Befürworter der Öffentlich-Rechtlichen. Doch je mehr Programm ich gesehen habe, um so mehr reifte in mir der Entschluß, es zu tun. Doch um nicht allein zu sein, bin ich kreuz und quer durch die Republik gereist, habe mit Medienwissenschaftlern, Kritikern, Kollegen gesprochen.

ABENDBLATT: Welches Image hat die ARD denn?

BERTRAM: Da war ich wirklich erstaunt, fast entsetzt. Die Hierarchen gelten als nicht kritikfähig, sie schotteten sich regelrecht gegen Kritik ab. Damit seien sie auch nicht reformfähig. Manche wirkten zynisch, arrogant in ihrer Argumentation. Mein Schluß daraus: Die Liaison zwischen den Öffentlich-Rechtlichen, ihren Hierarchen und den Intellektuellen besteht nicht mehr. Die haben sich nämlich abgewandt, weil das Programm zu boulevardesk geworden ist, es wurde sozusagen ent-intellektualisiert.

ABENDBLATT: Sind die Intellektuellen vielleicht einfach enttäuscht, weil sie nicht mehr vorkommen?

BERTRAM: Geisteswissenschaftler kommen tatsächlich kaum noch vor, und es ist auch nicht immer leicht, deren Gedanken rüberzubringen. Aber unsere Welt wird immer komplexer, und im Fernsehen wird sie immer einfacher dargestellt.

ABENDBLATT: Wenn aber keiner die „schwere Kost“ sehen möchte?

BERTRAM: Zuschauer sind bequem, das ist ganz menschlich. Aber je mehr man die Zuschauer mit „leichter Kost“ beliefert, desto weniger verstehen sie die „schwere Kost“. Man entwöhnt die Zuschauer sozusagen.

ABENDBLATT: Wie gefällt Ihnen denn der neue ARD-Abend?

BERTRAM: Er hat eine positive Wirkung auf die „Tagesthemen“, aber das geht zu Lasten der politischen Magazine, das finde ich bedenklich.

ABENDBLATT: Fehlt es denn an den passenden Sendeplätzen oder an Korrespondenten?

BERTRAM: Es wird immer mehr Programm gemacht bei gleichbleibendem Personal. Die Hintergrundberichterstattung ist drastisch reduziert worden. Als ich Korrespondent in Skandinavien war, Anfang der Achtziger, da mußte das Thema natürlich interessant, aber auch relevant sein. Und Analyse war Pflicht. Vielen Journalisten heute ist die soziale Verantwortung, das politische Engagement abhanden gekommen. Für die gesellschaftliche Analyse fehlt ihnen ein Standpunkt.

ABENDBLATT: Früher war alles besser?

BERTRAM: Was diesen Aspekt betrifft: ja. Das Fernsehen war politischer, ernsthafter, aufklärerisch. Und damit aus meiner altbackenen Sicht auch besser. Als besonders fatal empfinde ich die fortschreitende Boulevardisierung des Dritten.

ABENDBLATT: Was bezwecken Sie mit dem Buch?

BERTRAM: Das öffentlich-rechtliche Fernsehen sollte bestimmte Werte wiederaufleben lassen. Dazu gehören Seriosität, Verläßlichkeit, Kritik und die Fähigkeit, Kritik einstecken zu können. Auch die Orientierung an den sozialen Interessen der Zuschauer und nicht der Macht gehören dazu. Den Zuschauer sollte man als Partner begreifen, den man fordert, dem man Informationen und Analyse an die Hand gibt, den man aufklärt und zu dessen Emanzipation man beiträgt. Die andere Schule sieht den Zuschauer als Konsumenten, den man unterhält und nicht fordert.

ABENDBLATT: Haben Sie etwas gegen Unterhaltung?

BERTRAM: Überhaupt nicht. Aber ein bestimmter Standard sollte einfach nicht unterschritten werden. Von Glanzlichtern wie etwa der Serie „Die Manns“ von Heinrich Breloer und dem NDR-Kollegen Horst Königstein zehre ich noch heute.

Aufruf der Initiative „Qualität statt Quote“