Das GANZE Werk - Presseschau

arte, 1. März 2006

Zitat:
Bertram (...) findet sogar einige kleine Widerstandsnester unter den Zuschauern. Sogar mit punktuellen Erfolgen. Diese wenigen Widerborstigen, meint er, müsste man, wenn schon sonst kaum noch einer innerhalb des Systems zu kämpfen bereit sei, stärken. Auf die hofft er. Vermutlich hat er für die auch sein Buch geschrieben. Es ist, wenn man es nicht als Schwanengesang eines Dinosauriers des öffentlich-rechtlichen Rundfunks abtut, ein eindrucksvoller, manchmal etwas trauriger Appell etwas zu tun, an diejenigen gewendet, die begriffen haben, dass unsere Gesellschaft, ohne ein intaktes öffentlich-rechtliches Rundfunk-System, sich selbst aufgibt.

Buchtipp der Woche - Politisches Buch

Jürgen Bertram: Mattscheibe

Das Ende der Fernsehkultur

Eine Rezension von Peter Wien

Man könnte den Plot für eine Horrorfiktion über den Niedergang eines gesellschaftlichen Systems kaum besser erfinden und konstruieren, als das, was uns Jürgen Bertram in seinem neuen, im Fischer Taschenbuch Verlag erschienen Sachbuch „Mattscheibe“ ganz real und authentisch erzählt.

Dabei berichtet er auch vom Wechselbad seiner Gefühle, von seiner idealistischen Naivität, seiner Verwirrung, seinem ungläubigen Erstaunen, vom erschrockenen Entsetzen und seiner beinahe hoffnungslosen Resignation, die ihn immer mehr befällt, je intensiver er sich dem Gegenstand seiner Recherchen nähert. Der Gegenstand ist das Fernsehen, genauer das öffentlich-rechtliche Fernsehen in der Bundesrepublik Deutschland.

Warum fragt Bertram erst jetzt nach?

Bertram ist fast ein Leben lang, bis zu seiner Pensionierung, mitten drin gewesen in diesem Fernsehen. Mit einem journalistischen Werdegang allerdings, der es ihm, trotz vieler Zweifel erlaubt, dieses Fernsehen kritisch unter die Lupe zu nehmen. Natürlich hat er sich die Frage gestellt, ob es eigentlich legitim ist, wenn man fast ein ganzes Leben lang in einem Unternehmen tätig war, es erst zu kritisieren, wenn man ungefährdet draußen ist. Und jeder wird sich der zusätzlichen Frage stellen müssen, warum er - wenn alles sich so schrecklich entwickelt hat im öffentlich-rechtlichen Rundfunk - nichts dagegen unternommen hat, so lange er es noch innerhalb des Systems gekonnt hätte.

Jürgen Bertram konnte nicht, weil er zwar Teil des Systems war, aber eben außerhalb. Er war nämlich den größeren Teil seines journalistischen Lebens als Fernseh-Korrespondent der ARD im Ausland, in Südost-Asien, in China. Viele werden sich an seine kenntnisreichen, gut recherchierten, gut gefilmten Berichte erinnern. Das war im besten Sinne „guter Journalismus“. Bertram war zunächst Redakteur bei verschiedenen Tageszeitungen, bei dpa und bei „Der Spiegel“ gewesen, bevor er 1972 zum NDR gekommen war, zu einer Zeit also, als das öffentlich-rechtliche Rundfunksystem noch sehr weitgehend geprägt war von den Prinzipien seiner Gründerväter, etwa eines Hugh Carleton Greene.

Die Geschichte der Anfänge des NDR erzählt Jürgen Bertram denn auch in seinem Buch und man fragt sich zunächst, warum eigentlich, weil die doch jeder kennt. Aber bald wird einem klar, dass das wichtig ist, weil er sich später immer wieder darauf berufen wird, auf die Ausgangsvoraussetzungen für den öffentlich-rechtlichen Rundfunk, auf seine Prinzipien, auf seinen Auftrag.

Den sieht er zwar in der Phase der Auseinandersetzung um die Einführung des kommerziellen Rundfunks attackiert, aber nicht eigentlich gefährdet. Und in dieser Gewissheit geht er ins Ausland, mit dem Bewusstsein, dass, trotz der Einführung des dualen Systems, Deutschland immer noch eines der besten Fernsehsysteme der Welt hat. Natürlich bekommt er aus der Ferne den einen oder anderen Angriff auf die Rundfunkfreiheit in Deutschland mit, den einen oder anderen Versuch der Politik, den Rundfunk in den Griff zu bekommen. Aber solche Versuche gab es immer und fast immer war es gelungen, sie zurück zu weisen. Und natürlich hat ihn im fernen Peking gelegentlich das selbstherrliche Verhalten von nach China reisenden Politikern irritiert, die Selbstverständlichkeit, mit der sie sich des Fernsehens bedienen wollten. Er hat das aber mehr den Personen und ihren Marotten zugerechnet als den Folgen einer Veränderung des Systems.

Banalisierung der Fiktion und Boulevardisierung der Information

Und dann kommt er, nach 16 Jahren, wieder nach Deutschland zurück und sieht, was aus dem öffentlich-rechtlichen Fernsehen, als Teil des dualen Systems, geworden ist. Er sieht die Selbstkommerzialisierung, das ungenierte Schielen nach den Quoten, den Kampf um Marktanteile um jeden Preis, den damit einhergehenden Qualitätsverfall in allen Sparten, die Vertümelung der Unterhaltung, die Banalisierung der Fiktion, die Boulevardisierung der Information, die Buffetisierung der Tagesprogramme, den Verlust an Kultur, die Vernachlässigung von Minderheiten, die Selbstherrlichkeit der Fernsehgewaltigen, die Heuchelei, mit der sie diese Niveauverflachung für notwendig erklären, indem sie nicht müde werden zu betonen, dass die Gebühr nicht zu rechtfertigen sei, wenn sie zu wenig Quote machten, mit dem Programm zu wenig Menschen erreichten.

Nun sind sicher einige dieser Phänomene auch Folgen einer gesamtgesellschaftlichen Entwicklung, wobei sich Bertram natürlich fragt, was dabei das Ei und was die Henne ist. Und er will wissen, wie es im Einzelnen dazu gekommen ist. Er geht auf Reisen durch die Republik und fragt Macher und Verantwortliche, Kollegen, die er von früher kennt und stößt auf eine erschreckend resignative Leidenshaltung. Das ist halt einfach so gekommen, erfährt er, punktuell habe man ja Widerstand geleistet, zum Teil auch mit Erfolg und so schlimm sei es insgesamt ja nun auch wieder nicht, es gebe doch immer noch…usw.usw. Ein Schulbeispiel dafür, wie man sich an Regelverstöße gewöhnt und sie nicht mehr wahrnimmt, sie stillschweigend geschehen lässt, weil man sich möglicherweise nicht mehr daran erinnert oder erinnern will, wie es eigentlich sein müsste.

Wenige Widerborstige unter den Zuschauern

Und dann will Bertram natürlich auch wissen, wie das hoch verehrte Publikum auf diese Entwicklung reagiert. Er findet sogar einige kleine Widerstandsnester unter den Zuschauern. Sogar mit punktuellen Erfolgen. Diese wenigen Widerborstigen, meint er, müsste man, wenn schon sonst kaum noch einer innerhalb des Systems zu kämpfen bereit sei, stärken. Auf die hofft er. Vermutlich hat er für die auch sein Buch geschrieben. Es ist, wenn man es nicht als Schwanengesang eines Dinosauriers des öffentlich-rechtlichen Rundfunks abtut, ein eindrucksvoller, manchmal etwas trauriger Appell etwas zu tun, an diejenigen gewendet, die begriffen haben, dass unsere Gesellschaft, ohne ein intaktes öffentlich-rechtliches Rundfunk-System, sich selbst aufgibt.

Jürgen Bertram, „Mattscheibe. Das Ende der Fernsehkultur“. Fischer Verlag, 240 Seiten, 8,95 Euro.

Lesen das Interview mit Jürgen Bertram
über sein neues Buch „Mattscheibe - Das Ende der Fernsehkultur“:
„Zuschauer werden entwöhnt“
Innenperspektive: Kritik an den Mechanismen der ARD. Jürgen Bertram fordert von Fernsehschaffenden Seriosität, Verläßlichkeit und Kritikfähigkeit.
Hamburger Abendblatt, 17. Januar 2006