Das GANZE Werk - Presseschau

Köln, 28. März 2006

Erstveröffentlichung beim GANZEN Werk:
Offener Brief von Gerhart R. Baum an die Intendantin des RBB

Zitate
Das Programm der Kulturwelle des RBB und die kulturellen Förderungsaktivitäten des RBB haben im Laufe der letzten Jahre einen erheblichen Substanzverlust erlitten. (...)
Das Arbeitsgericht Berlin hat in einem - allerdings noch nicht rechtskräftigen - Verfahren ausgeführt: Der Kläger (gemeint ist der Redakteur Martin Demmler) „musste in der Vergangenheit erfahren, dass beim Kulturradio (gemeint ist der RBB) anspruchsvolle Programme immer mehr zurückgedrängt... werden“.
Dieses System ist heute zum Beispiel durch die zunehmende Digitalisierung ernsthaft bedroht. Die Bedrohung sollte nicht dadurch verstärkt werden, dass sich die Sender in ihrem Kernauftrag selbst demontieren. Wenn sie auf Rechten bestehen - und ich kann durchaus nachvollziehen, dass sie sich an Karlsruhe wenden - müssen sie auch ihre Pflichten erfüllen. (...)
Das Bundesverfassungsgericht hat festgestellt, dass es Aufgabe des Rundfunks ist, anspruchsvolle Sendungen mit hohem Kostenaufwand zu produzieren, auch wenn diese nur für eine geringe Zahl von Teilnehmern von Interesse sein sollten.

Originalansicht - Druckvorlage (Pdf)

Gerhart R. Baum
Rechtsanwalt
Bundesminister a.D.

Ubierring 50
D-50678 Köln
+49-(0)221
Tel 3276 20
Fax 3276 21
grbaum@t-online.de


An die
Intendantin des Rundfunks Berlin-Brandenburg (RBB)
Frau Dagmar Reim


Aufruf zur Stärkung des Kulturauftrags des öffentlich-rechtlichen Hörfunks - Karlsruhe und Brüssel müssen eingeschaltet werden


Köln, den 28.3.06

Sehr geehrte Frau Reim,


der Brief Ihrer Hörfunkdirektorin vom 24.01.2006 überzeugt mich nicht.

Ich bleibe bei der Kritik in meiner Presseerklärung vom 10.01.2006 und werde darin durch lebhafte Zustimmung aus der kulturinteressierten Öffentlichkeit bestärkt.

Das Programm der Kulturwelle des RBB und die kulturellen Förderungsaktivitäten des RBB haben im Laufe der letzten Jahre einen erheblichen Substanzverlust erlitten. Dies gilt insbesondere auch in den Bereichen Alte und Neue Musik. Es gab überproportionale Etatkürzungen, Reduzierung der Sendezeiten sowie Rückzug aus wichtigen Konzertreihen. Insgesamt orientiert sich der Sender immer weniger an Qualitätsmaßstäben. Das Quotendenken, das vom Musikchef des Senders öffentlich zum Thema gemacht wurde, bestimmt immer stärker die Entscheidungen.

Das Arbeitsgericht Berlin hat in einem - allerdings noch nicht rechtskräftigen - Verfahren ausgeführt: Der Kläger (gemeint ist der Redakteur Martin Demmler) „musste in der Vergangenheit erfahren, dass beim Kulturradio (gemeint ist der RBB) anspruchsvolle Programme immer mehr zurückgedrängt... werden“.

Die Situation muss auch unter juristischen Gesichtspunkten behandelt werden. Die Kritik bezieht sich nicht allein auf den RBB, sondern auch auf andere so genannte Kulturwellen.

1. Die Klage von ARD und ZDF in Karlsruhe gibt Anlass dafür, dem Gericht die Prüfung nahe zu legen, ob die von ihm selbst aufgestellten Maßstäbe für den Kultur- und Bildungsauftrag des öffentlich-rechtlichen Rundfunks eingehalten werden.

2. Das Prüfverfahren, das die Europäische Kommission in Richtung auf den öffentlich-rechtlichen Rundfunk eingeleitet hat und das keineswegs erledigt ist - wie der soeben übermittelte umfangreiche Fragenkatalog zeigt - muss dieses Thema einbeziehen. Es geht um die Fragen: wie rechtfertigt Deutschland einen gebührenfinanzierten Rundfunk? Findet die Befriedigung der „kulturellen Bedürfnisse“, die Deutschland der Kommission zugesichert hat, wirklich statt?

Um keinen Zweifel aufkommen zu lassen: Ich bin ein Befürworter des öffentlich rechtlichen Systems, weil es allein geeignet ist, unter anderem zur kulturellen Entwicklung des Landes beizutragen.

Dieses System ist heute zum Beispiel durch die zunehmende Digitalisierung ernsthaft bedroht. Die Bedrohung sollte nicht dadurch verstärkt werden, dass sich die Sender in ihrem Kernauftrag selbst demontieren. Wenn sie auf Rechten bestehen - und ich kann durchaus nachvollziehen, dass sie sich an Karlsruhe wenden - müssen sie auch ihre Pflichten erfüllen.

Meine Schlussfolgerungen im Hinblick auf den RBB sind:

1. Mit kosmetischen Änderungen ist nichts getan. Das Grundkonzept der Kulturwelle stimmt nicht. Das Bundesverfassungsgericht hat festgestellt, dass es Aufgabe des Rundfunks ist, anspruchsvolle Sendungen mit hohem Kostenaufwand zu produzieren, auch wenn diese nur für eine geringe Zahl von Teilnehmern von Interesse sein sollten. „Wir zahlen nicht Gebühren für unsere Unterforderung“ (Wolfgang Rihm).

2. Gefordert ist nicht die nostalgische Rückkehr zu früheren Formen der Programmgestaltung. Durch beharrliches Bemühen sollten nachhaltig neue Hörergruppen gewonnen werden, und das nicht durch Qualitätsminderung, sondern auf einem Wege, wie es Initiativen zahlreicher Orchester, Konzerthäuser und andere Sendeanstalten beispielhaft tun - ich denke z.B. an Simon Rattle's Projekt „Rhythm is it!“ in Berlin, an die „Response“-Projekte in Köln oder das bundesweite Projekt „Kinder zum Olymp“. Diese Initiativen setzen auf Qualität und nicht auf Anpassung auf niederem Niveau. Die Fixierung auf kurzfristige Quotenschwankungen kann nicht Maßstab langfristiger Überlegungen sein.

3. Es geht nicht nur um die Programmgestaltung, sondern auch um die Fortentwicklung der Musik gerade in der deutschen Hauptstadt. Fortentwicklung bedeutet ausdrücklich auch: Kompositionsaufträge, Produktionen jenseits des gängigen Repertoires unter fachkundiger Betreuung, Teilnahme an Festivals und deren Verbreitung sowie rundfunkgemäße Aufbereitung - insbesondere auch in den anspruchsvollen „Randbereichen“ der Alten und Neuen Musik. Die Berliner Musikszene erwartet eine aktive Förderung durch den RBB, wie das bei anderen regionalen Sendern selbstverständlich ist.

4. Der Fachverstand und die Erfahrung derjenigen Personen im Sender, die ein anspruchsvolles Programm gestalten können, sollten genutzt werden.

5. Die Öffentlichkeit und die Gremien des Senders haben Anspruch darauf, voll darüber informiert zu werden, welche Veränderungen bei der Kulturwelle z.B. im Haushalt stattgefunden haben. Die Gremien sollten noch entschiedener als bisher auf den Gang der Dinge Einfluss nehmen.

6. Die kulturellen Potentiale Berlins sind über die Musik hinaus in besonderer Weise geeignet, dem Sender ein Hauptstadtprofil zu geben, das heute allerdings eher DeutschlandRadio Kultur hat.


Mit freundlichen Grüßen

gez. Gerhart R. Baum



P.S.: Kopien meines Schreibens erhalten Frau Dr. Ulrike Liedtke (Vorsitzende des Rundfunkrates RBB) und Frau Karin Stemmler (Vorsitzende des Programmausschusses RBB). Ich behalte mir vor, den Brief Interessenten zugänglich zu machen.

Lesen Sie zur Podiumsdiskussion am 22. Juni 2006 in Berlin:

„rbb kulturradio - Wird der Kulturauftrag noch erfüllt? - Ein Streitgespräch“
Der Gründungsausschuss der „Initiative Das GANZE Werk (Berlin-Brandenburg)“ als Veranstalter lädt ein zu einer Podiumsdiskussion am Donnerstag, 22. Juni 2006, um 19.30 Uhr in der Hochschule für Musik „Hanns Eisler“ Berlin, Krönungskutschen-Saal, Neuer Marstall - Schloßplatz 7, 10178 Berlin (Mitte)
Gründungsausschuss, 23. Mai 2006

Entwurf der Gründungsresolution: Mehr Radiokultur bei kulturradio
Nur mit einem attraktiven Programm kann kulturradio neue Hörer hinzu- und ehemalige Hörer zurückgewinnen
Gründungsausschuss der „Initiative Das GANZE Werk (Berlin-Brandenburg)“, 23. Mai 2006

Lesen Sie zur Korrespondenz von Gerhart Baum mit RBB-Intendantin Dagmar Reim:

Der Kommentar: Bekannte Argumentationsmuster
„Rosinenpickerei und Eigenlob - aber keine grundsätzlichen ‚Fakten‘“
Kommentar in der Form eines Zwiegesprächs, von Theodor Clostermann, 25. Mai 2006

Die Überprüfung: Die vier Punkte von Frau Reim
„Fakten“? Glanzlichter und ganz andere Tatsachen
Von Theodor Clostermann, 25. Mai 2006

Die Dokumentation: Alles auf einer Seite
Der Offene Brief von Gerhart Baum, die Antwort der Intendantin und die Überprüfung ihrer vier „Fakten“ nebeneinander, abschließend der Kommentar
28. März, 12. April und 25. Mai 2006

Die Antwort: Brief von RBB-Intendantin Dagmar Reim an Gerhart Baum
„Weitere Argumentationen in der Sache (sind) sinnlos, weil Sie Vorurteile an die Stelle von Urteilen setzen und Ihre Meinung nicht von Fakten stören lassen“
Rundfunk Berlin-Brandenburg (RBB), 12. April 2006

Anfrage und Anklage: Offener Brief an die Intendantin des RBB
Aufruf zur Stärkung des Kulturauftrags des öffentlich-rechtlichen Hörfunks - Karlsruhe und Brüssel müssen eingeschaltet werden, Gerhart Baum, 28. März 2006

Lesen Sie zur weiteren Auseinandersetzung von Gerhart Baum mit dem kulturradio:

Radio ohne Kultur
Gerhart Baums Kritik am Rundfunk
Frankfurter Allgemeine Zeitung, 11. Januar 2006

Aushöhlung des Kulturauftrags durch Programme der so genannten Kulturradios
Die vollständige Pressemeldung von Gerhart Baum zum Kulturradio
Gerhart Baum, 10. Januar 2006, Erstveröffentlichung beim GANZEN Werk

Lesen Sie zum Kulturauftrag von Gerhart Baum:

Auftrag, nicht Wohltat - Öffentlicher Rundfunk und Neue Musik
Grundsätzliches zum Kulturauftrag der öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten
Das Bundesverfassungsgericht ist der Meinung, dass die „besondere Eigenart“ des öffentlichen Rundfunks erst durch die Erbringung solcher Programmteile „ihre Rechtfertigung“ findet, die unter kommerziellen Bedingungen notwendig defizitär bleiben.
Frankfurter Allgemeine Zeitung, 23. März 2005