Die „Klassik“-Musikauswahl für Berlin und Brandenburg

kulturradiorbb, Juni 2009, „Klassik“-Musikauswahl

Das Kulturradio des Rundfunks Berlin-Brandenburg (Werbespruch: „Hier spielt die Klassik“) deutet immer wieder an, wie „umfangreich“ und „vielfältig“ die klassische Musik sein könne. Doch durch die eigenen Fesseln bei der Planung von Programm und Musik werden alle Chancen für ein interessantes Programm vergeben.

Einfalt statt Vielfalt – so „spielt die Klassik“

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Von Jürgen Thomas

Wir haben hier schon mehrfach dokumentiert, dass das kulturradiorbb mit seiner Musikauswahl Kopfschütteln hervorruft (siehe die Übersicht am Ende). Um zu prüfen, inwieweit solche Kritik systematisch berechtigt ist, habe ich alle gespielten Musikstücke im „Tagesbegleitprogramm“ eines Monats untersucht.

Der Juni 2009 scheint mir für einen allgemeinen Überblick geeignet zu sein: In den Monaten zuvor haben die Gedenktage für Mendelssohn Bartholdy, Händel und Haydn die Auswahl erheblich beeinflusst. Im Juli und August gab es vielleicht wegen der Urlaubszeit andere Schwerpunkte, im September wegen des Musikfests in Berlin.

Hinweise zu den Auswertungen (ohne Klassikbörse, CD der Woche und CD-Kritik) stehen am Ende dieses Beitrags.

Die Komponisten – unerwartete Vielfalt

In der Auswertung werden 1.625 Musikstücke berücksichtigt. Genauer: Es handelt sich fast nie um vollständige „Stücke“, sondern überwiegend um Ausschnitte mit vielen Wiederholungen. Vier Stücke sind anonym oder traditioneller Herkunft; die anderen verteilen sich auf 352 verschiedene Komponisten.

Handelt es sich also um einen umfassenden Überblick über die Musikgeschichte? Bei durchschnittlich 4 ½ Ausschnitten je Komponist könnte man dies annehmen. Aber wie das mit Statistiken und Durchschnittswerten so ist, täuscht der erste Eindruck.

Ein einzelnes Werk je Komponist?

Über die Hälfte aller Komponisten wird nur einmal berücksichtigt; darunter befinden sich auch eine ganze Reihe bekannter Namen:

• Claudio Monteverdi (1567–1643)
• Johann Pachelbel (1653–1706)
• Carl Heinrich Graun (1703–1759)
• Franz Benda (1709–1786)
• Karl Ditters von Dittersdorf (1739–1799)
• E. T. A. Hoffmann (1776–1822)
• Franz Berwald (1796–1868)
• Gaetano Donizetti (1797–1848)
• Adolphe Adam (1803–1856)
• Fanny Mendelssohn-Hensel (1805–1847)]
• Peter Cornelius (1824–1874)
• Gustav Mahler (1860–1911)
• Alexander Skrjabin (1872–1915)
• Carl Orff (1895–1982) - mit gerade einmal 1'43" aus den „Carmina burana“ (instrumental ohne Gesang)

Ein vollständiger Überblick

Insgesamt gehören die Komponisten – bezogen auf das Geburtsjahr – wie folgt zu den Zeiträumen, je nach Anzahl der Musikstücke bzw. Ausschnitte, mit denen sie zu hören sind:

Geburtsjahr 1 Ausschnitt 2–5 Ausschnitte 6–10 Ausschnitte häufiger
Mittelalter   1    
16. Jahrhundert 9 1    
17. Jahrhundert 30 20 4 4
1700–1749 24 23 6 5
1750–1799 26 12 3 6
1800–1849 25 24 4 13
1850–1899 50 27 8 1
ab 1900 (verstorben) 6 5 2  
ab 1900 (noch lebend) 12 1    

Natürlich spielt das Geburtsjahr für die Bedeutung eines Komponisten und seines Werkes in der Musikgeschichte überhaupt keine Rolle; stattdessen müsste die Entstehungszeit der Werke berücksichtigt werden. Aber auch so ist offensichtlich, welche Bedeutung das kulturradiorbb den Komponisten in ihrer Zeit zumisst: Mit der Vielzahl der Namen wird die Vielfalt des Programms nur vorgespiegelt; die wenigsten Musikschöpfer werden für wert erachtet, mehrfach gespielt zu werden.

Einzelne Komponisten mit vielen Sendeterminen

Diese Beschränkung wird erst recht deutlich, wenn wir sehen, wie oft die Lieblinge der RBB-Musikredakteure berücksichtigt werden:

• Wolfgang Amadé Mozart (1756–1791) mit 82 Ausschnitten
• Joseph Haydn (1732–1809) mit 74 Ausschnitten
• Johann Sebastian Bach (1685–1750) mit 70 Ausschnitten
• Ludwig van Beethoven (1770–1827) mit 68 Ausschnitten
• Franz Schubert (1797–1828) mit 56 Ausschnitten
• Johannes Brahms (1833–1897) mit 46 Ausschnitten
• Felix Mendelssohn Bartholdy (1809–1847) mit 41 Ausschnitten
• Antonio Vivaldi (1678–1741) mit 39 Ausschnitten
• Georg Friedrich Händel (1685–1759) mit 39 Ausschnitten
• Frédéric Chopin (1810–1849) mit 39 Ausschnitten
• Antonín Dvorák (1841–1904) mit 38 Ausschnitten
• Pjotr Iljitsch Tschaikowski (1840–1893) mit 35 Ausschnitten
• Robert Schumann (1810–1856) mit 33 Ausschnitten
• Georg Philipp Telemann (1681–1767) mit 24 Ausschnitten
• Gioacchino Rossini (1792–1868) mit 24 Ausschnitten
• Carl Philipp Emanuel Bach (1714–1788) mit 20 Ausschnitten

Die wichtigsten Namen aller Musikepochen (selbstverständlich ohne das 20. Jahrhundert) werden ständig und immer wieder gespielt. Die Vielfalt der Musik wird nur angedeutet. Das Programm insgesamt wird langweilig und öde.

Beethovens Orchesterwerke als Beispiel

Beethoven gehört also zu den meistgespielten Komponisten. Aber das sollte uns nicht veranlassen zu glauben, dass sein Werk angemessen im Programm vertreten wäre. Das gilt allenfalls – wenn auch mit großen Einschränkungen – für die Orchesterwerke.

Einzelne Sätze der Sinfonien (20 Ausschnitte) werden immer wieder einmal gebracht:

Nr. Tonart opus Jahr 1. Satz 2. Satz 3. Satz 4. Satz 5. Satz
1 C-Dur 21 1800 1 1  
2 D-Dur 36 1802 1 1 2  
3 Es-Dur 55 1804 1  
4 B-Dur 60 1806 1 1  
5 c-Moll 67 1808 1  
6 F-Dur 68 1808 1
7 A-Dur 92 1812 1 1 2  
8 F-Dur 93 1812 1 2  
9 d-Moll 125 1824 2  

Die Lücken zeigen, dass das kulturradiorbb etwas gegen Vollständigkeit hat. Selbst bei den Sinfonien 2 und 7, von denen drei Sätze gespielt werden (und der vierte doppelt), fehlt ein Satz. Bei den bedeutenden Sinfonien 3, 5, 6, 9 gibt es gerade mal einen der Sätze. Der letzte Satz der „Pastorale“ dürfte nach Beethovens Intentionen überhaupt nicht separat gespielt werden; denn die Sätze 3, 4, 5 sind durchkomponiert und gehören ohne Unterbrechung zusammen. Ausnahmslos sind schnelle Sätze zu hören (allenfalls mit langsamer Einleitung). Das ist wirklich keine angemessene Präsentation der Sinfonien.

Ähnlich sieht es bei den Orchesterkonzerten (24 Ausschnitte) aus: Bei den fünf Klavierkonzerten wird der erste Satz niemals gespielt, die langsamen Sätze aus Nr. 1, 3, 4 je einmal, die schnellen dritten Sätze insgesamt 12x (überwiegend also mehrfach). Beim Violinkonzert gibt es den 3. Satz „Rondo. Allegro“ fünfmal, die anderen Sätze werden verschwiegen. Die Violinromanze in F-Dur gibt es viermal, die in G-Dur wird ignoriert.

Zwei Orchester-Ouvertüren, eine Leonoren- und die Fidelio-Ouvertüre sowie zwei Tänze (insgesamt 6 Stücke) vervollständigen das, was der RBB mit Orchester anbietet. Das Tripelkonzert, das Oboenkonzert und weitere Schauspiel- und Ballettmusiken sowie Ouvertüren werden missachtet.

50 der 68 gespielten Ausschnitte gehören also zu Musik mit Orchester. Viele Instrumente – ist es das, was das kulturradiorbb unter Vielfalt versteht?

Beethovens Kammermusik als Beispiel

Die 18 weiteren Ausschnitte verteilen sich so:

• 4 Ausschnitte mit Bläsern, davon zwei Harmoniemusiken
• 2 Ausschnitte aus 16 Streichquartetten
• 1 Ausschnitt aus 3 Klavierquartetten
• 1 Ausschnitt aus 11 Klaviertrios
• 7 Ausschnitte aus 32 Klaviersonaten
• ein weiteres Klavierstück
• 2x andere Kammermusik (Duo für Klarinette und Fagott, Oktett)

Ein Klaviertrio, keine Violinsonate, keine Violoncellosonate (um nur die wichtigsten Bereiche mit vielen Werken zu nennen) – das zeugt von Flickschusterei, um vage anzudeuten, dass der Komponist Beethoven noch viel mehr zu bieten hätte (siehe www.klassika.info). Genauer aber interessiert sich dieses Kultur-Radio dafür nicht.

Beethovens Werke mit Gesang als Beispiel

Es ist keine Überraschung mehr, aber dennoch katastrophal: Bei Gesang glänzt das kulturradiorbb mit vollständiger Ignoranz. Abgesehen von der Ouvertüre nichts aus „Fidelio“, keine Kantate, keine Messe, kein einziges Lied. Dies beweist das vollständige Desinteresse des Senders an der musikalischen Vielfalt Beethovens; selbst die Bezeichnung „Einfalt“ wäre noch viel zu positiv für diese Art der Musikauswahl.

Einzelne Ausschnitte als Dauer-„Hits“

Die scheinbare Vielfalt bei den Komponisten wird endgültig zur Einfalt, wenn man sich (beispielhaft) die Liste der gespielten Musikschnipsel ansieht.

Christoph Willibald von Gluck (1714–1787): Einer der großen Reformer der Musikgeschichte wird mit drei Sendeterminen abgespeist, und dreimal handelt es sich um instrumentale Ausschnitte seiner Oper „Orfeo ed Euridice“ – einmal den „Tanz der Furien“, zweimal den „Reigen seliger Geister“. Dass Oper etwas mit Gesang zu tun hat und Gluck noch viel mehr Opern und andere Werke geschaffen hat, davon will der RBB nichts wissen.

Hector Berlioz (1803–1869, insgesamt 11 Sendetermine): Aus „La Damnation du Faust“ ist fünfmal der „Ungarische Marsch“ zu hören; aus der „Symphonie fantastique“ gibt es den zweiten Satz „Un bal“ viermal. Dass eine Oper (auch wenn der Begriff bei „Fausts Verdammnis“ nicht korrekt ist) etwas mit Gesang zu tun hat und eine Sinfonie aus mehr als einem Satz besteht, das ignoriert der RBB.

Edvard Grieg (1843–1907, immerhin 17 Sendetermine): Aus der Suite „Aus Holbergs Zeit“ mit 5 Sätzen wird der zweite „Sarabande“ einmal und der fünfte „Rigaudon“ viermal gespielt. Stets wird das Arrangement für Streichorchester gebracht; dass es noch drei weitere Sätze gibt, ignoriert der RBB genauso wie die ursprüngliche Klavierfassung.

Leonard Bernstein (1918–1990, insgesamt 8 Sendetermine): Neben vier (verteilten) Ausschnitten gibt es viermal die Ouvertüre aus dem Musical „Candide“. Bernstein ist dem RBB sowenig wert, dass er immer wieder diesen einen Schlager bringt.

Diese Aufstellung könnte noch viel länger sein; vor allem diejenigen Komponisten, die zwei- oder dreimal gespielt werden, dürfen nur mit Wiederholungen eines einzigen Ausschnitts zum Programm beitragen. Die Festlegung der Programmmacher: keine Angst vor den Hauptwerken der großen Komponisten (Hits) schlägt um in die Maxime: was bekannt ist, muss immer wieder gespielt werden; anderes interessiert uns nicht.

Der Grundsatz des RBB lautet:
Beschränktheit bei der Musikauswahl

Es ist zum Verzweifeln – unter welchem Gesichtspunkt auch immer man sich die Musikauswahl beim kulturradiorbb vornimmt: Das oberste Ziel dieses Kultur-Radios ist die Trivialisierung der Kultur. Mit den eigenen Festlegungen für das Programm kann nichts Besseres herauskommen:

„Musik ist Stimmung, Gestus, Atmosphäre. Musik ist Gefühl.
Die musikalische Grundfarbe des Programms ist klassisch. Sie begleitet heiter und auf gehobenem Niveau durch den Tag...
Das Programm ist abwechslungsreich, d.h. vielfältig und kontrastreich gestaltet. Epochen, Genres und Farben wechseln in einer ausgewogenen Balance... Musik als ‚content‘ findet nicht statt.“

Diese (früheren) internen Vorgaben, eingebettet in ein starres zeitliches Raster für Wortbeiträge mit strikten Anweisungen, welche Musik wann wie gespielt werden darf und welche selten oder gar nicht, führen zu einem wahl- und sinnlosen Durcheinander. Nicht die Inhalte der Musik bestimmen die Musikauswahl, sondern die Randbedingungen. Wenn die RBB-Planer den Rahmen des „Tagesbegleitprogramms“ für viel wichtiger erachten als die Inhalte, sich nur um die Anzahl der Hörer statt um die Qualität des Hörens, ist es kein Wunder, wenn mit der Musik Schindluder getrieben wird. Mit dem ständigen Abnudeln der immer gleichen Ausschnitte verleidet der Sender auch hervorragende Werke der Musikgeschichte.

Man kann mir widersprüchliche Forderungen vorwerfen: auf der einen Seite umfassende Präsentation der musikalischen Richtungen und möglichst aller Komponisten, auf der anderen Seite möglichst vieler vollständiger Kompositionen. Natürlich ist die zur Verfügung stehende Sendezeit begrenzt, um innerhalb eines Monats alles zu bieten. Aber als bewusster Hörer kann ich von einem Sender, der an sich selbst den Anspruch eines Kultur-Radios stellt, wohl mehr erwarten. Er hat mit seinen Programmplanern und Musikredakteuren die personelle Kompetenz für ein qualifiziertes Programm:

• musikalische Zusammenhänge benötigen Freiräume im Tagesprogramm
• Sendetermine für ganze Werke auch tagsüber, und zwar nicht nur als Alibi in der „Klassikbörse“, sondern als eigenständiges Programm
• Verknüpfung zwischen Wortbeiträgen und der Musik
• Bedeutung der Stücke als Schwerpunkt bei der Musikauswahl, nicht das Zeitraster des Programms

Das kulturradiorbb muss die Struktur des „Tagesbegleitprogramms“ ändern. Ebenso muss die Auswahl der gespielten Musik nach musikalischen Gesichtspunkten erfolgen. Dann können Programmplaner und Redakteure ein interessantes, qualifiziertes Programm anbieten.

Das kulturradiorbb bleibt uns bisher einen Qualitätsnachweis schuldig; es kommt seinem Kulturauftrag nicht nach.

Abgeschlossen am 1. Oktober 2009

 

Lesen Sie auch frühere Untersuchungen zur Musikauswahl im kulturradiorbb:

Musikauswahl mit Mendelssohn Bartholdy – beschränkt wie immer... (3. Februar 2009)
Selbst zum 200. Geburtstag nur ein musikalischer Flickenteppich

Beispielhafte DGW-BB-Untersuchungen zu: Charles Gounod und Hector Berlioz (Jan./Febr. 2009)
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Der Hörer wurde für „Ultraschall – Das Festival für neue Musik“ zwar auf den Geschmack gebracht, durfte aber an keiner Stelle die passende Musik hören. (Jan. 2008)
Schön, dass wir über zeitgenössische Musik gesprochen haben...
... da müssen wir sie nicht auch noch spielen

 

Hinweise zu den Auswertungen

Dazu habe ich die RBB-Musiklisten vollständig ausgelesen, gespeichert, in einer Datenbank zusammengefasst und nach verschiedenen Kriterien analysiert.

Nicht berücksichtigt wurden folgende Musikstücke:
• die mehrfachen Ausschnitte der CD der Woche
• das ganze Werk, das täglich als Ergebnis der Klassikbörse gespielt wird
• die tägliche Vorstellung der CD-Kritik
Für alle diese Ausschnitte gibt es spezielle Begründungen, die außerhalb der normalen Musikauswahl stehen.

Die Lebenszeiten der Komponisten habe ich überwiegend nach Wikipedia herausgesucht. Wenn Jahreszahlen nicht genau bekannt sind, habe ich ersatzweise ein Jahr aus einem wahrscheinlichen Jahrzehnt benutzt. Nur für David Davidoff habe ich überhaupt keine konkrete Angabe gefunden (für die Vergleiche habe ich ihn fiktiv auf das Geburtsjahr 1950 gesetzt).