Das GANZE Werk - Presseschau - Dokumentation

Bundesverfassungsgericht, 11. September 2007, Urteilsbegründung

„Rundfunkgebühren verfassungswidrig festgesetzt“
Urteil vom 11. September 2007
1 BvR 2270/05; 1 BvR 809/06; 1 BvR 830/06

Rundfunkfreiheit und Programmauftrag

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Auszug aus der Urteilsbegründung (Absätze 113 bis 127)

Vorbemerkung der Redaktion von www.dasganzewerk.de:
Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts wurde in vielen Teilen der Presse in dem Sinne kommentiert, es sei ein Urteil von Ewiggestrigen (zum Beispiel in der Frankfurter Rundschau: „Ein Hauch von Nostalgie“).
In Wirklichkeit verteidigt das Bundesverfassungsgericht das Prinzip der Rundfunkfreiheit (Art. 5 Abs. 1 Satz 2 Grundgesetz) und seine selbst entwickelten Grundsätze des Programmauftrags für den öffentlich-rechtlichen Rundfunk. Anders als es die Kommentare nahelegen, aktualisert das Bundesverfassungsgericht diese Gesichtspunkte für den heutigen Zustand
• von neuer horizontaler und vertikaler Medienkonzentration,
• von neuen Technologien und Vertriebswegen,
• der Konkurrenz zwischen privaten und öffentlich-rechtlichen Anbietern und
• der letzten Erfahrungen des Dahinschleichens der Trennung von Programm und Werbung.
Es formuliert damit deutliche Vorgaben für die Politik (Rundfunkstaatsverträge) und die Programmmacher in den Rundfunkanstalten.
Diese Ausführungen sind für uns eine erneute Bestätigung dafür, dass wir mit unserem Einsatz für mehr Radiokultur richtig liegen.
Lesen Sie diese Ausführungen entweder im vollständigen Argumentationszusammenhang (auf dieser Seite) oder als Kurzfassung.
Zur besseren Lesbarkeit haben wir die umfangreichen Literaturverweise ausgelassen. Diese können Sie im Originaltext unter der entsprechenden Absatznummer nachsehen.

C.
Die Verfassungsbeschwerden gegen die Gebührenfestsetzung durch die landesrechtlichen Zustimmungsakte zu Art. 6 Nr. 4 8. Rundfunkänderungsstaatsvertrag sind begründet. Diese Gebührenfestsetzung verletzt die Rundfunkfreiheit der Beschwerdeführer aus Art. 5 Abs. 1 Satz 2 Grundgesetz (GG).
 
   113
I.
Zur Gewährleistung der Rundfunkfreiheit in der dualen Rundfunkordnung gehört die Sicherung der Funktionsfähigkeit des öffentlichrechtlichen Rundfunks unter Einschluss seiner bedarfsgerechten Finanzierung.
 
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1. Die Rundfunkfreiheit dient der freien, individuellen und öffentlichen Meinungsbildung. Der in Art. 5 Abs. 1 Satz 2 GG enthaltene Auftrag zur Gewährleistung der Rundfunkfreiheit zielt auf eine Ordnung, die sicherstellt, dass die Vielfalt der bestehenden Meinungen im Rundfunk in möglichster Breite und Vollständigkeit Ausdruck findet. Die Ausgestaltung dieser Ordnung ist Aufgabe des Gesetzgebers, der dabei einen weiten Gestaltungsspielraum, auch für Differenzierungen insbesondere nach der Regelungsart und Regelungsdichte, vorfindet. Dass gesetzliche Regelungen zur Ausgestaltung der Rundfunkordnung nicht durch den Wegfall der durch die Knappheit von Sendefrequenzen bedingten Sondersituation entbehrlich geworden sind, hat das Bundesverfassungsgericht schon früher betont. Dies hat sich im Grundsatz durch die technologischen Neuerungen der letzten Jahre und die dadurch ermöglichte Vermehrung der Übertragungskapazitäten sowie die Entwicklung der Medienmärkte nicht geändert.   115
a) Anlass der gesetzlichen Ausgestaltung der Rundfunkordnung ist die herausgehobene Bedeutung, die dem Rundfunk unter den Medien wegen seiner Breitenwirkung, Aktualität und Suggestivkraft zukommt. Seine Breitenwirkung zeigt sich in der Reichweite und der Möglichkeit der Beeinflussung großer Bevölkerungsteile. So prägen die audiovisuellen Massenmedien seit langem bei den meisten Bürgern große Zeiteinheiten des Tagesablaufs. Die Aktualität des Hör- und Fernsehfunks folgt daraus, dass Inhalte schnell, sogar zeitgleich, an die Rezipienten übertragen werden können. Die besondere Suggestivkraft des Mediums ergibt sich insbesondere aus der Möglichkeit, die Kommunikationsformen Text und Ton sowie beim Fernsehfunk zusätzlich bewegte Bilder miteinander zu kombinieren und der programmlichen Information dadurch insbesondere den Anschein hoher Authentizität zu verleihen. Diese Wirkungsmöglichkeiten gewinnen zusätzliches Gewicht dadurch, dass die neuen Technologien eine Vergrößerung und Ausdifferenzierung des Angebots und der Verbreitungsformen und -wege gebracht sowie neuartige programmbezogene Dienstleistungen ermöglicht haben.   116
b) Rundfunk kann für die Verfolgung nicht nur publizistischer, sondern auch wirtschaftlicher Ziele eingesetzt werden. Der publizistische und ökonomische Wettbewerb führt jedoch nicht automatisch dazu, dass für die Unternehmen publizistische Ziele im Vordergrund stehen oder dass in den Rundfunkprogrammen die Vielfalt der in einer Gesellschaft verfügbaren Informationen, Erfahrungen, Werthaltungen und Verhaltensmuster abgebildet wird. Rundfunkprogramme haben, wie insbesondere in der medienökonomischen Literatur analysiert und erklärt wird, im Vergleich zu anderen Gütern besondere ökonomische Eigenschaften. Diese sind mit dafür ursächlich, dass bei einer Steuerung des Verhaltens der Rundfunkveranstalter allein über den Markt das für die Funktionsweise einer Demokratie besonders wichtige Ziel der inhaltlichen Vielfalt gefährdet ist. Insbesondere die Werbefinanzierung stärkt den Trend zur Massenattraktivität und zur Standardisierung des Angebots. Auch bestehen Risiken einseitiger publizistischer Betätigung und damit Einflussnahme. Der wirtschaftliche Wettbewerbsdruck und das publizistische Bemühen um die immer schwerer zu gewinnende Aufmerksamkeit der Zuschauer führen beispielsweise häufig zu wirklichkeitsverzerrenden Darstellungsweisen, etwa zu der Bevorzugung des Sensationellen und zu dem Bemühen, dem Berichtsgegenstand nur das Besondere, etwa Skandalöses, zu entnehmen. Auch dies bewirkt Vielfaltsdefizite.   117
c) Gefährdungen der Erreichung des der Rundfunkordnung insgesamt verfassungsrechtlich vorgegebenen Vielfaltsziels entstehen auch infolge der Entwicklung der Medienmärkte und insbesondere des erheblichen Konzentrationsdrucks im Bereich privatwirtschaftlichen Rundfunks. Rundfunk wird nicht nur durch herkömmlich ausgerichtete Medienunternehmen veranstaltet und verbreitet. Zunehmend werden im Rundfunkbereich auch andere Unternehmen, neuerdings etwa Kapitalgesellschaften unter maßgeblicher Beteiligung von internationalen Finanzinvestoren tätig. Auch engagieren sich Telekommunikationsunternehmen als Betreiber von Plattformen für Rundfunkprogramme. Der Prozess horizontaler und vertikaler Verflechtung auf den Medienmärkten schreitet voran. Die Veranstaltung und Verbreitung von Rundfunkprogrammen ist häufig nur ein Glied in einer multimedialen Wertschöpfungs- und Vermarktungskette. Es bestehen vielfältige Potentiale der wechselseitigen Verstärkung von publizistischem Einfluss und ökonomischem Erfolg und damit der Nutzung von Größen- und Verbundvorteilen, darunter auch durch crossmediales Marketing. Die neuen Technologien erlauben im Übrigen den Einsatz von Navigatoren und elektronischen Programmführern, deren Software ihrerseits zur Beeinflussung der Auswahlentscheidung von Rezipienten genutzt werden kann.   118
Auch wegen der mit der Konzentration im Rundfunk verbundenen Risiken einer einseitigen Einflussnahme auf die öffentliche Meinungsbildung hat das Bundesverfassungsgericht Vorkehrungen zum Schutz der publizistischen Vielfalt als geboten angesehen und hinzugefügt, dass einmal eingetretene Fehlentwicklungen sich - wenn überhaupt - nur bedingt und nur unter erheblichen Schwierigkeiten rückgängig machen lassen.
 
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2. Die duale Ordnung eines Nebeneinander von öffentlichrechtlichem und privatwirtschaftlichem Rundfunk nutzt die durch die verschiedenartigen Strukturen der Veranstalter ermöglichten unterschiedlichen Programmorientierungen als Beitrag zur Sicherung der Breite und Vielfalt des Programmangebots.   120
Während der Gesetzgeber für privatwirtschaftlichen Rundfunk im Wesentlichen auf Marktprozesse vertraut, unterliegt der öffentlichrechtliche Rundfunk besonderen normativen Erwartungen an sein Programmangebot. Öffentlichrechtliche Veranstalter werden besonderen organisatorischen Anforderungen zur Sicherung der Vielfalt und Unabhängigkeit unterworfen. Vergleiche der Programmprofile der öffentlichrechtlichen und der privatwirtschaftlichen Veranstalter ergeben deutliche Unterschiede.   121
a) Die gesetzlichen Regelungen sollen es dem öffentlichrechtlichen Rundfunk ermöglichen, seinen klassischen Funktionsauftrag zu erfüllen, der neben seiner Rolle für die Meinungs- und Willensbildung, neben Unterhaltung und Information seine kulturelle Verantwortung umfasst. Nur wenn ihm dies gelingt und er im publizistischen Wettbewerb mit den privaten Veranstaltern bestehen kann, ist das duale System in seiner gegenwärtigen Form, in der die privatwirtschaftlich finanzierten Programme weniger strengen Anforderungen unterliegen als die öffentlichrechtlichen, mit Art. 5 Abs. 1 Satz 2 GG vereinbar.   122
Um der Bestands- und Entwicklungsgarantie für den öffentlichrechtlichen Rundfunk im Rahmen eines solchen Systems gerecht zu werden und die Erfüllung seines Funktionsauftrags zu ermöglichen, muss der Gesetzgeber vorsorgen, dass die dafür erforderlichen technischen, organisatorischen, personellen und finanziellen Vorbedingungen bestehen. Da das Programmangebot auch für neue Inhalte, Formate und Genres sowie für neue Verbreitungsformen offen bleiben muss, der Auftrag also dynamisch an die Funktion des Rundfunks gebunden ist, darf der öffentlichrechtliche Rundfunk nicht auf den gegenwärtigen Entwicklungsstand in programmlicher, finanzieller und technischer Hinsicht beschränkt werden. Die Finanzierung muss entwicklungsoffen und entsprechend bedarfsgerecht gestaltet werden. Dem entspricht die Garantie funktionsgerechter Finanzierung. Die Mittelausstattung muss nach Art und Umfang den jeweiligen Aufgaben des öffentlichrechtlichen Rundfunks gerecht werden.   123
b) Von der Freiheit öffentlichrechtlichen Rundfunks ist seine Programmautonomie umfasst. Die Entscheidung über die zur Erfüllung des Funktionsauftrags als nötig angesehenen Inhalte und Formen des Programms steht den Rundfunkanstalten zu. Eingeschlossen ist grundsätzlich auch die Entscheidung über die benötigte Zeit und damit auch über Anzahl und Umfang der erforderlichen Programme.   124
Das bedeutet aber weder, dass gesetzliche Programmbegrenzungen von vornherein unzulässig wären, noch, dass jede Programmentscheidung einer Rundfunkanstalt finanziell zu honorieren wäre. In der Bestimmung des Programmumfangs sowie in der damit mittelbar verbundenen Festlegung ihres Geldbedarfs können die Rundfunkanstalten nicht vollständig frei sein. Denn es ist ihnen verwehrt, ihren Programmumfang und den damit mittelbar verbundenen Geldbedarf über den Rahmen des Funktionsnotwendigen hinaus auszuweiten.
 
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3. Der Funktionsfähigkeit öffentlichrechtlichen Rundfunks dient die vorrangige Finanzierung über öffentlichrechtliche Gebühren. Die Pflicht zur Zahlung der Gebühr knüpft für die Grundgebühr an das Bereithalten eines Hörfunkempfangsgeräts, für die Fernsehgebühr an das Bereithalten eines Fernsehgeräts (§ 2 Abs. 2 RGebStV) an und schließt unter bestimmten Bedingungen auch so genannte neuartige Rundfunkempfangsgeräte ein, insbesondere Rechner, die Rundfunkprogramme ausschließlich über Angebote aus dem Internet wiedergeben können (§ 5 Abs. 3 RGebStV). Die Finanzierung des öffentlichrechtlichen Rundfunks auf der Grundlage des Gebührenaufkommens soll eine weitgehende Abkoppelung vom ökonomischen Markt bewirken und dadurch sichern, dass sich das Programm an publizistischen Zielen, insbesondere an dem der Vielfalt, orientiert, und zwar unabhängig von Einschaltquoten und Werbeaufträgen.   126
Allerdings sind auch andere Finanzierungsquellen neben der Gebührenfinanzierung von Verfassungs wegen nicht ausgeschlossen. Das gilt grundsätzlich auch für Einnahmen aus Werbung oder Sponsoring. Doch dürfen sie wegen der mit ihnen verbundenen vielfaltverengenden Wirkung die Gebührenfinanzierung nicht in den Hintergrund drängen. Auch bedarf der fortwährenden Überprüfung, wie weit die mit der teilweisen Finanzierung über Werbung und Sponsoring verbundene Erwartung, sie könne die Unabhängigkeit des öffentlichrechtlichen Rundfunks gegenüber dem Staat stärken, die Nutzung dieser Finanzierungsarten angesichts der mit ihr verbundenen Risiken einer Rücksichtnahme auf die Interessen der Werbewirtschaft, einer zunehmenden Ausrichtung des Programms auf Massenattraktivität sowie einer Erosion der Identifizierbarkeit öffentlichrechtlicher Programme weiterhin rechtfertigen kann. Der Gesetzgeber hat Vorsorge dafür zu treffen, dass der öffentlichrechtliche Rundfunk seine Funktion unbeeinflusst von jeglicher Indienstnahme für außerpublizistische Zwecke, seien sie politischer oder ökonomischer Natur, erfüllen kann.   127

Lesen Sie außerdem zum Urteil des Bundesverfassungsgerichts, 11. September 2007:
„Funktionsnotwendig“
Editorial zum Karlsruher Gebührenurteil von Volker Lilienthal
epd medien Nr. 74 vom 19. September 2007

„Aus Karlsruhes Sicht steht das duale Rundfunksystem unverändert unter dem Vorbehalt seiner Verfassungskonformität. Der Rabatt, der dem privaten Rundfunk wegen seiner Orientierung am Massengeschmack gewährt wird, ist nur so lange rechtens, wie der öffentlich-rechtliche Rundfunk ausgleichend auf dessen Defizite reagieren kann.
Hierfür muss der öffentlich-rechtliche Rundfunk finanziell, rechtlich, technisch, personell instand gesetzt werden. Auch dies hat Karlsruhe mit Blick auf die Gewährleistungspflicht des Staates noch einmal klargestellt. Der Staat muss für einen freien Rundfunk sorgen. Doch jeglicher Einwirkung auf das Programmangebot, und sei es nur strukturell, muss er sich enthalten.“

Ein Hauch von Nostalgie
Kommentar zum Karlsruher Gebührenurteil (Ausschnitt) von Daland Segler
Frankfurter Rundschau, 12. September 2007
• Rundfunkfreiheit und Programmauftrag
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Bundesverfassungsgericht, 11. September 2007, Urteilsbegründung
„Rundfunkgebühren verfassungswidrig festgesetzt“
Bundesverfassungsgericht, 11. September 2007, Pressemitteilung